Klostergeist
Ornamenten, welche sonst der beigefarbenen Couch etwas Farbe verliehen, waren zur Gänze unter losen Papierbögen verborgen. Auf dem Couchtisch stapelten sich halb durchgeblätterte Ordner, der Teppichboden war übersät mit Papieren, als habe ein Windstoß ein Großraumbüro durcheinandergewirbelt.
Marlies Engel bemerkte Pius fragenden Blick. Keinlaut murmelte sie ein »Verzeihen Sie, wie es hier aussieht.«
Pius legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter.
Frau Engel zuckte unter seiner Berührung zusammen, dann wandte sie sich abrupt um und hastete aus dem Zimmer. »Nehmen Sie Platz, ich mache uns einen Kaffee, ich habe eine neue Maschine«, rief sie aus der Küche.
Pius langte in seine Kuttentasche, doch außer einem leeren Bonbonpapier und einem benutzten Papiertaschentuch war nichts darin. Der Pater seufzte und ging zur Couch. Vorsichtig schob er einige Blätter zur Seite und setzte sich auf den so frei gewordenen Platz. Tief sank er in die weichen Polster ein.
Aus der Küche drang gedämpftes Klappern in die Stube. Der Pater schloss die Augen und versuchte sich vorzustellen, wie es noch vor wenigen Tagen in diesem Wohnzimmer gewesen sein musste, abends, als die Eheleute nach einem langen Arbeitstag zu zweit hier saßen. Hatte Manfred Engel Nachrichten angeschaut? Tierfilme oder Krimis? Hatten sie gelesen, jeder in einem anderen Buch? Oder sich unterhalten? Pius fiel es schwer, sich einen ganz normalen Abend bei den Engels auszumalen.
Er schreckte aus seinen Gedanken hoch, als Marlies Engel mit der Spitze des Pantoffels die Tür aufstieß. Auf einem Tablett balancierte sie zwei Tassen, aus denen Dampf aufstieg.
»Oh«, sagte sie und blickte ratlos vom mit Papieren beladenen Tisch zu Pius.
»Einen Moment«, reagierte der prompt und schob vorsichtig die Ordner zur Seite, sodass sie das Tablett auf dem Couchtisch platzieren konnte.
»Jetzt hab ich die Milch vergessen, Sie nehmen doch Milch?«
»Gerne, Frau Engel.«
»Einen Augenblick«, entschuldigte sich die Witwe, drehte sich um und hastete zurück in die Küche.
Pius, der mit einer Hand das Tablett stützte, damit es nicht vom Tisch fiel, schob mit der anderen die Ordner noch ein wenig weiter nach rechts. Mit einem leisen Poltern rutschte eine schmale Mappe auf den Boden. Blätter rutschten heraus.
Pius rückte das Tablett vollständig auf den Tisch und bückte sich nach den Zetteln. Hastig schob er sie zu einem Haufen zusammen. Eben wollte er sie in die Mappe zurücklegen, da fiel sein Blick auf das oberste Blatt. Ein Kontoauszug. Ausgestellt für Herrn Manfred Engel. ›Überweisung: 57.000 €. Verwendungszweck bekannt‹, las Pius.
»Geht auch normale Milch, Pater Pius? Die Kaffeesahne ist alle!«, rief Frau Engel aus der Küche.
»Bestens, gerne«, antwortete Pius. Und stopfte, ehe er überhaupt nachdenken konnte, den Kontoauszug in die Hosentasche.
Wieder stieß Marlies Engel die Tür mit dem Fuß auf.
»Ist Ihnen warm?«, fragte sie mit einem Blick auf Pius rote Wangen.
Als sie ihm fragend in die Augen sah, wurde Pius tatsächlich heiß. Der Kontoauszug in seiner Tasche schien zu brennen. »Nein, es geht schon«, antwortete er und griff, um Frau Engel nicht anschauen zu müssen, nach seiner Kaffeetasse. Der Pater pustete hinein, doch das schlechte Gewissen, das sein Herz zum Rasen brachte, ließ sich dadurch nicht vertreiben.
Frau Engel nahm einen Papierstapel vom Sessel, platzierte ihn neben sich auf den Boden und ließ sich mit einem leisen Seufzer in die Polster sinken.
»Entschuldigen Sie die Unordnung«, sagte sie nochmals. »Es ist so, das ganze Finanzielle hat immer mein Mann gemacht. Ich war auf der Suche nach den Unterlagen für die Lebensversicherung, aber …« Marlies Engel stockte.
Pius nickte ihr aufmunternd zu. Er wusste, dass es am besten war, Trauernde reden zu lassen. Reden. Egal, was.
»… die Police war aber nicht im Versicherungsordner abgeheftet und so habe ich eine Akte nach der anderen herausgesucht. Ich verstehe von all dem ja nichts.« Der Witwe schossen die Tränen in die Augen. Sie wischte sie mit dem Handrücken fort.
»Wissen Sie, mein Mann, das war einer, der hat sich wohlgefühlt, wenn er Papiere und Akten um sich hatte. Er hat ja zuerst Biologie studiert, auf Lehramt, dann aber auf Jura umgesattelt.«
Wieder nickte Pius aufmunternd. Im Kopf machte er sich eine Notiz für die Trauerrede, die er am Abend schreiben wollte: ›Der Verstorbene hatte sich schon in jungen Jahren Recht und Gesetz
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