Klostergeist
verpflichtet.‹
»Jedenfalls, als wir uns kennenlernten, da stand er an der Bushaltestelle, hatte den ›Schönfelder‹ unter den Arm geklemmt und eine Zigarette zwischen den Lippen«, fuhr die Witwe fort. »Ich kam gerade von der Arbeit, ich war in München als Verkäuferin beim Karstadt angestellt. Wie er da so stand, ein Bild von Mann, ich hab ganz weiche Knie bekommen.« Marlies’ Blick glitt in die Ferne und Pius spürte, dass sie ihn vergessen hatte. Die Trauernde schwelgte in der Vergangenheit.
»Natürlich habe ich ihn nicht angesprochen, das gehört sich ja nicht, aber ich hab schon darauf geachtet, jeden Tag zur selben Zeit an die Bushaltestelle zu gehen. An den meisten Tagen war er da, und wirklich, eines Tages hat er dann die Initiative ergriffen. Noch am Abend haben wir uns vor dem Hofbräuhaus verabredet, aber selbstverständlich gingen wir nicht hinein, wir sind stattdessen durch die Stadt gebummelt. Im Herbst dann, Monate nach unserer ersten Begegnung, fragte Manfred mich, ob ich ihn heiraten wollte. Das war vorm Dallmayr.« Marlies Engel seufzte.
Pius auch – denn er dachte an die Fernsehwerbung für Prodomo, das wunderschön dekorierte Schaufenster und die Verkäuferin in der frisch gestärkten Schürze.
»Der Dallmayr sieht wirklich so aus wie im Fernsehen«, erklärte Marlies Engel, als habe sie Pius Gedanken erraten. »Aber so gemütlich wie in der Werbung war’s da schon damals nicht.«
Pius nickte und notierte im Geiste: ›Mit seiner Frau Marlies verband ihn eine tiefe Liebe‹.
Die Witwe senkte den Blick und starrte auf den Ehering an ihrer rechten Hand. Versonnen schob sie das Schmuckstück auf dem Finger auf und ab. Sie erzählte von den ersten Ehejahren in München, als ihr Manfred in der Staatskanzlei als Rechtsreferendar arbeitete. Vom gemeinsamen Umzug in dessen Heimatstadt Spaichingen, der zu pflegenden Eltern wegen. Pius kannte Engels Lebenslauf: Als Verwaltungsangestellter im Tuttlinger Landratsamt war ihm genügend Freizeit geblieben, um sich für den Gemeinderat der Primstadt aufstellen zu lassen. Bei der ersten Wahl entfielen nur wenige Stimmen auf ihn. Doch vier Jahre, zahlreiche Vereinsmitgliedschaften und Leserbriefe im ›Bergbote‹ später war Engel bekannt genug, um in das Lokalparlament einzuziehen. Zwei Legislaturperioden – und zwei Fehlgeburten seiner Frau – darauf kandidierte er für das Amt des Bürgermeisters. Seit seinem grandiosen Wahlsieg mit über 70 Prozent der Wählerstimmen regierte Engel die Geschicke der Stadt am Fuße des Dreifaltigkeitsbergs.
›Ein Lokalpolitiker mit Leib und Seele‹, arbeitete Pater Pius in Gedanken weiter an seiner Rede. Wie so oft in solchen Momenten fragte er sich, was man dereinst über ihn sagen würde. ›Tief gläubig seit der Kindheit‹? ›Ein Leben, das Gott gewidmet war‹? Ja – aber niemand würde seine anfänglichen Zweifel verstehen, seinen Hader mit den Eltern und seine – längst vergangene – pubertäre Sehnsucht nach Maria. Nicht der Muttergottes, sondern der Bäckerstochter mit den rotblonden Locken.
Marlies Engel stockte in ihrer Erzählung.
Pius räusperte sich. Jetzt war der Moment gekommen, in dem er als Seelsorger gefragt war. »Möchten Sie, dass ich etwas Privateres bei der Trauerfeier sage?«, wagte er einen vorsichtigen Vorstoß.
Frau Engel nickte. Einen Moment herrschte Schweigen in der Stube und Pius wagte nicht, sich zu bewegen, als könne ein Rascheln aus seiner Hosentasche ihn verraten.
»Vielleicht können Sie sagen, dass Manfred die Natur sehr geliebt hat. Wir waren im Urlaub immer gerne im Allgäu oder in den Alpen zum Wandern«, erzählte Marlies Engel. Abrupt stand sie auf, ging zum Einbauschrank und kam mit einem in rotem Leder eingebundenen Album zurück.
»Sehen Sie sich das gerne an«, lächelte sie mühsam und drückte Pius das Buch in die Hand. Der Pater blätterte darin: Engel an ein Gipfelkreuz gelehnt, Engel in kurzen Hosen im Bergbach stehend, Engel bei der Jause vor einer Berghütte. Hunderte Bilder klebten in dem Album – und jedes zeigte den Verstorbenen.
»Wenn Sie jetzt wissen wollen, warum da nur mein Mann drauf ist – die Fotos, die mich zeigen, sind in einem anderen Album. Das war Manfreds Vorschlag.« Marlies Engel zuckte mit den Schultern.
Pius hob fragend den Blick, verkniff sich aber jeglichen Kommentar. Er selbst besaß nur ein gutes Dutzend Fotografien, die er in einem braunen Umschlag lagerte. Die erste Profess, ein Ausflug nach Rom, der
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