Klostergeist
türkisches Ehepaar, eine Mutter nebst plärrendem Säugling, ein Mann mit Stock und Hut und ein junges Pärchen, das sich krampfhaft an den Händen hielt. Sie alle warteten offensichtlich darauf, ins Bürgerbüro gerufen zu werden, wegen eines neuen Ausweises, eines verloren gegangenen Handys oder der Anmeldung einer Trauung. Verena nickte den Leuten kurz zu und wandte sich nach links. Hinter der mit geriffeltem Glas versehenen Tür führte ein schmaler Gang an drei weiteren Türen vorbei. Am Ende des Ganges, nach rechts versetzt, hatte Marianne Klaiber hinter einer Milchglasscheibe ihr Reich, bestehend aus Schreibtisch, Telefon und Kaffeemaschine nebst Aktenschränken. Verena pochte gegen die Fensterscheibe und kam gleich darauf zur
Tür herein.
»Guten Morgen, Frau Klaiber.«
»Ach, hallo, Frau Hälble.« Die Sekretärin des Bürgermeisters blickte von einem Stapel Briefen auf und sah Verena aus rot geränderten, verquollenen Augen an.
»Was soll ich nur mit der ganzen Post machen? Das ist alles für Herrn Engel«, flüsterte Marianne Klaiber. »Ich kann doch nicht alles dem Hafen geben.«
»Frau Klaiber, Sie finden bestimmt eine Lösung«, sagte Verena aufmunternd.
»Ja, sicher …«, antwortete die Sekretärin, ohne selbst davon überzeugt zu sein. »Irgendwie muss es ja weitergehen.« Tränen schossen ihr in die Augen. »Entschuldigung«, nuschelte sie und schnäuzte sich geräuschvoll in ein mit lila Stickereien verziertes Taschentuch. »Was kann ich für Sie tun, Frau Hälble?«
»Ich würde gerne mal ins Archiv gehen, mich interessieren die Protokolle der letzten Gemeinderatssitzungen.«
»Wenn’s der Aufklärung dient«, seufzte Frau Klaiber und erhob sich schwerfällig. »Da muss ich Sie aber zu Frau Fischer bringen. Sie schreibt die Protokolle und kennt sich aus.«
»Ach, ich dachte, Frau Fischer sei die Standesbeamtin?«
»Das auch, Frau Hälble, aber so oft wird in Spaichingen nicht geheiratet, dass die Frau Fischer damit ausgelastet wäre«, meinte die Sekretärin und ging an Verena vorbei auf den Flur. An der letzten Tür vor der Glaspforte, die die Verwaltung vom Bürgerbüro trennte, blieb sie stehen. »Da wären wir.«
Ohne anzuklopfen, stieß Marianne Klaiber die Tür auf und bat Verena mit einem »Bitte schön« hinein, ehe sie sich mit wehendem Rock und hängenden Schultern auf den Rückweg zu ihrem eigenen Schreibtisch machte.
»Grüß Gott, Frau Fischer«, sagte Verena und ging auf die braun gelockte Frau zu, die hinter einem imposanten Schreibtisch vor einem aufgeklappten Laptop saß.
»Hallo!«, rief Sabine Fischer und warf Verena über den Schreibtisch hinweg ein so strahlendes Lächeln zu, dass diese gute Laune bekam. »Was kann ich für Sie tun?«
»Verena Hälble, von der Kripo«, stellte sich Verena vor und streckte der Standesbeamtin die Hand entgegen.
Diese schlug mit einem kräftigen Händedruck ein. »Im Fernsehen würden Sie mir jetzt den Ausweis unter die Nase halten«, lachte Frau Fischer.
Verena grinste. »Im Fernsehen wären Sie dann aber auch eine Verdächtige, sonst würde das alles niemals in 90 Minuten passen.«
Die Standesbeamtin grinste zurück und ließ eine Reihe blendend weißer, perfekter Zähne sehen.
»Es geht um den Tod von Herrn Engel«, meinte Verena.
Sabine Fischer wurde augenblicklich ernst. »Unglaublich. Ich verstehe das nicht.«
»Ich auch noch nicht, Frau Fischer. Aber vielleicht kann es helfen, wenn ich die Protokolle der vergangenen Gemeinderatssitzungen einsehe. Frau Klaiber sagte mir, Sie seien die Protokollantin?«
Die Standesbeamtin nickte. »Ja, wenn ich nicht grade die Spaichinger unter die Haube bringe, dann sitz ich montags immer in den Sitzungen.«
»Wie war denn so die Stimmung im Rat in letzter Zeit?«
»Sie meinen, ob jemand aus dem Gremium …? Aber nein.« Sabine Fischer schüttelte vehement den Kopf, sodass die braunen Locken flogen.
»Das sind zwar Hitzköpfe und die schreien sich auch mal an, aber nein, beim besten Willen nicht!«
»Gab es denn Streitigkeiten?«
»Aber natürlich, quer durch alle Fraktionen.«
»Ich meine, irgendetwas Besonderes?«
»Hm, lassen Sie mich überlegen. Doch, da gab es etwas, da hat sogar der Engel mal gebrüllt, Verzeihung, der Herr Bürgermeister«, entschuldigte sich Frau Fischer und sprang auf. »Am besten lesen Sie das selbst nach«, schlug sie vor und ging zum Aktenschrank, stieg auf einen Rollhocker und zog nach kurzem Überlegen einen roten Ordner aus dem obersten
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