Klostergeist
Bürgermeister Manfred Engel aufgesprungen.
›Halt, nein, nicht!‹, hatte er laut Protokoll gerufen. Selbst wenn die Protokollantin nichts über Hafens Gesichtsausdruck geschrieben hatte, Verena konnte sich den zornesroten Schuhhändler bildlich vorstellen. Und auch den – ebenfalls nicht notierten – Tumult, als Engel seinem Stellvertreter mitgeteilt hatte, dass das Gebäude längst verkauft worden sei. Und zwar an ihn, Manfred Engel.
›Dann verkaufsch des mir halt zrück!‹, stand im Protokoll die Aufforderung Hafens.
›Des kann ich net‹, hatte daraufhin der Schultes erwidert. ›ich hab’s scho wieder weiterverkauft.‹
An dieser Stelle waren einige Sätze mit schwarzem Filzstift unkenntlich gemacht. Verena blätterte weiter, doch Näheres zum Hauskauf konnte sie in der kompletten Akte nicht entdecken.
Mit einem Taschentuch, das sie aus ihrer Jacke fummelte, markierte sie die Seiten, bat Sabine Fischer um Kopien und machte sich dann auf den Weg zurück ins Präsidium. Schräg gegenüber vom Marktplatz fiel ihr Blick auf ein marodes altes Haus, dessen Putz abblätterte – und daneben auf den Schuhladen von Arthur Hafen, dessen Schaufenster nur zur Hälfte beleuchtet war. Die Leuchtreklame über dem Eingang hing schief und schien ein Sinnbild für die Situation des Schuhladens zu sein.
»57.000 Euro«, murmelte die Kommissarin und dachte an den Kontoauszug. Das konnte eigentlich nur das Geld aus dem Verkauf des Hauses sein. Verena nahm sich vor, Thorben Fischer nachforschen zu lassen, sobald dieser von seiner privaten Stadtführung mit der Fernsehmoderatorin zurückgekehrt war.
»57.000 Euro, die Hafen die Existenz hätten retten können«, sinnierte Verena laut. »Menschen sind schon für weniger Geld umgebracht worden …«
Das war Paul McCartney mit seiner ›Lady Madonna‹. Ihr hört Radio Donauwelle, Euren Sender für den Kreis Tuttlingen. Nach den Nachrichten berichten wir in der kommenden Stunde nochmal ausführlich vom Tode Manfred Engels. Wir schalten dazu live zum Spaichinger Marktplatz, wo Kollege Steven mit Bürgern der Primstadt sprechen wird.
Unser Werbepartner Drogerie Maier lädt die Hörer der Donauwelle zu den Dufttagen in die Parfümerie ein. Heute könnt ihr euch Duftwässerchen zum Schnäppchenpreis sichern.
Die Gemeindeverwaltung Dürbheim teilt mit, dass ab sofort auch Auswärtige sich für einen Bauplatz im Neubaugebiet bewerben können. Und aus dem Balgheimer Rathaus erreicht uns die Nachricht, dass in der Nacht bislang unbekannte Täter das Klangspiel am Barfußpark beschädigt haben. Wer sachdienliche Hinweise machen kann, der sollte sich beim Bürgermeister oder der nächsten Polizeidienststelle melden.
An einem trüben Tag den 40. Geburtstag feiern ist nicht gerade prickelnd. Es sei denn, man heißt Erika Draumo und wird von seinen Freundinnen vom Mittwochstreff gegrüßt. Und zwar mit ›You are my sunshine‹ von Johnny Cash.
Pius knispelte, völlig versunken in seine Tätigkeit, mit dem rechten Daumennagel die klebrigen Überreste des Preisschildes ab, die seit Wochen die Rückseite der kleinen Bibel verunstalteten. Der schwarz gewordene Kleister formte sich unter seinen Händen zu kleinen Röllchen. Pius seufzte leise und sah verstohlen auf die Uhr. Eine knappe halbe Stunde noch, dann wäre sein Dienst im Beichtstuhl für heute beendet. Ohnehin hatten nur drei Damen und ein Mann den Weg auf den Berg gefunden. Und sie alle hatten kaum gesprochen, sondern sich alles aus der Nase ziehen lassen.
Der Pater konnte es den Menschen nicht verdenken, dass sie bei diesem Wetter lieber unten im Tal und zu Hause in ihren gemütlichen Stuben blieben, anstatt auf den Berg zu fahren, um ihr Gewissen zu erleichtern. Außerdem hatte die Polizei dafür gesorgt, dass kaum jemand hier heraufkam. Um ins Kloster zu gelangen, musste man entweder Priester sein oder die Kirche als Beichtender besuchen wollen. Recht war Pius diese Ruhe – immerhin wartete Stephen King auf ihn.
Just in dem Moment, als Pius an eine dampfende Tasse Kaffee dachte, dazu leckere Butterkekse, knarrte die Kirchentür. Pius horchte auf und legte die Bibel beiseite. Die schwere Holztür schlug krachend ins Schloss. Begleitet vom Hall des Knalles näherten sich Schritte. Pius bekreuzigte sich. Einen Augenblick später hörte er, wie sich die Tür auf der gegenüberliegenden Seite des erst vor wenigen Jahren im ganz modernen Stil installierten Beichtstuhles öffnete und leise wieder schloss.
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