Klostergeist
Herr bei ihm war.
Pius setzte sich auf die Bank neben dem Holzkreuz. Sein Atem schickte weiße Wölkchen in die Luft. Er fröstelte.
»Ach Herr«, begann er. »Ich weiß, ich bin zu neugierig. Das alles geht mich gar nichts an. Wirklich, ich habe mich bemüht, mich auf meine Mission zu konzentrieren. Ich wollte ja als Seelsorger mit Frau Engel reden. Wo hast Du, Herr, sie nur hingeschickt heute Abend? Und warst Du es, der mich das Telefonat mithören ließ?« Pius hob fragend den Kopf. Dort, wo die Jesusfigur hing, schien mit einem Mal ein Lichtstrahl gegen das Holz. Pius lächelte, denn obwohl er ganz genau wusste, dass dieses Licht aus dem Fenster eines der gegenüberliegenden Häuser kommen musste, nahm er es gerne als Zeichen.
»Du meinst also auch, dass ich mich einmischen darf? Vielleicht sogar soll?« Das Licht erlosch. Der Nachbar hatte sich wohl zu Bett begeben. Pius aber spürte ein innerliches Leuchten. Natürlich! Er würde Verena informieren. Sollte sie sich mit Lug, Betrug, Bestechung und Mord auseinandersetzen. Er hatte sowieso zu lange gezögert; längst hätte er offen mit der Kommissarin reden sollen.
Pius ging zurück zum Wagen und klemmte sich hinter das Steuer. Während er im Handschuhfach kramte, plärrte Amy Winehouse aus dem Radio. Pius drehte am Regler, bis er auf SWR2 Klassik empfing. Das Konzert erkannte er nicht, aber die Musik beruhigte ihn. Endlich hatte er das Handy gefunden. Die Prepaidkarte wurde regelmäßig von den Patres aufgeladen – und sollte eigentlich nur im Notfall genutzt werden. Pius beschloss, dass dies ein solcher Fall war, und wählte die Privatnummer der Kommissarin, die sie ihm auf ihrer Visitenkarte notiert hatte.
Tag 4
Radio Donauwelle, guten Morgen, ihr Nachtschwärmer und Frühaufsteher! Es ist 5 Uhr und hier ist noch eine Stunde lang eure Nachteule Regina am Regler!
Unser Werbepartner Optik Suttner wünscht euch allen einen schönen Tag und erinnert euch an die Sonnenbrillenaktion. Außerdem wird in der kommenden Woche ein Hörgeräteakustiker im Laden sein und euch nach dem Sehtest kostenlos einen Hörtest anbieten.
Weiter geht’s mit den Verkehrsmeldungen: Auf dem Autobahnzubringer Rottweil auf die A81 ist ein Lkw in die Leitplanken geraten. Verletzt wurde niemand, aber die Bergungsarbeiten dauern an. Laut Polizeibericht hatte der Lkw Gefahrgut geladen. Eine Umleitung ist eingerichtet.
Ich brauche jetzt erst mal eine Tasse Kaffee. Bis der Automat die Bohnen gemahlen hat, hört ihr da draußen die famosen Fanta Vier mit ›Tag am Meer‹, ein Hörerwunsch von Anja aus Spaichingen, die damit ihren Mann Ulrich und die ganze Rasselbande grüßt.
Als Bruder Ortwin, der in dieser Woche Weckdienst hatte, um kurz nach fünf an Pius’ Zellentür klopfte, war der schon fix und fertig angezogen. Nach seinem gestrigen Telefonat mit Verena, die ihm erst den Kopf gewaschen und sich dann bei ihm bedankt hatte, fühlte er sich leicht und frei. Es war nun einmal nicht sein Job, sich um kriminelle Machenschaften zu kümmern. Zurück in seiner Zelle hatte er Ruhe im Gebet gefunden und einige Zeilen aus seinem Brevier hatten ihn sanft in einen traumlosen Schlaf gewiegt. Der Pater fühlte sich bereit, noch einmal den Weg zu Evelyne Engel zu gehen.
Pius sang voller Inbrunst die Choräle in der frühmorgendlichen Andacht. Und die Bibellesung geriet ihm und den Brüdern zur reinen Freude, sahen sie doch alle, wie erfüllt ihr Prior von der Liebe Gottes war. Und in der Tat – so sicher und voller Zuversicht hatte Pius sich seit Tagen nicht mehr gefühlt. Ihm war, als habe der tödliche Sturz des Bürgermeisters eine Zäsur in sein Leben geschnitten: So viele menschliche Abgründe hatte er in all den Jahren seiner Mission nicht erlebt. Sicher, nichts Menschliches war den Patres fremd – doch musste Pius zugeben, dass hier oben auf dem Dreifaltigkeitsberg ein anderes Leben herrschte als unten im Tal. Pius liebte die Ruhe, den Frieden und die Nähe zu seinem Gott. Er liebte dies alles umso mehr, nachdem er die letzten Tage im stillen Gebet hatte Revue passieren lassen.
Auch Bruder Johannes fühlte sich gesegnet an diesem Morgen – und zwar vom gesunden Appetit, den sein Freund Pius beim gemeinsamen Frühstück zeigte. Begeistert löffelte der Pater zwei genau auf den pflaumenweichen Punkt gekochte Eier aus, bestrich drei Scheiben Toastbrot fingerdick mit Marmelade aus den Himbeeren des Klostergartens und trank zwei Gläser frisch gepressten Orangensaft.
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