Klotz Und Der Unbegabte Moerder
antwortete.
»Vielleicht weil es im ›Faust‹ um einen alten Sack geht, der auf ein junges blondes Mädel steht?«
Die Klasse war nicht mehr zu halten. Fassungslos stand Klotz da und musste zusehen, wie Papierschnipsel aus allen Richtungen flogen. Eine Handvoll Schüler hatte begonnen, sich auf dem Boden zu wälzen, andere tanzten auf den Tischen und grölten.
Klotz überlegte kurz. Angesichts der hoffnungslosen Lage gab es nur zwei Möglichkeiten: entweder die Segel streichen und gehen oder einen ultimativen Durchsetzungsversuch anstrengen. Endlich wusste Klotz, wohin mit seiner Wut. Er ballte die Faust und knallte sie, so laut er konnte, auf das Pult. Für einen Moment waren alle Augen auf ihn gerichtet. Cem Bülent, der brav auf seinem Platz saß, versuchte, die Lehrkraft zu beschwichtigen.
»Hey Chef, jetzt bleiben Sie mal schön cremig! Lehnen Sie sich zurück. Das geht schon wieder vorüber.«
Ob das von dem Adrenalinschub kam oder von den Drogen?, dachte er, während seine Hände nach etwas suchten, woran sie sich festhalten konnten. Das Flimmern vor seinen Augen wurde immer stärker, und dann war plötzlich alles schwarz.
Als er wieder zu Bewusstsein kam, steckte er in dem Wagen, in dem normalerweise der Tageslichtprojektor seinen Platz hatte. Mit unverminderter Lautstärke lärmten die Schüler der elften Klasse um ihn herum. Er drehte den Kopf und erkannte das Gesicht von Maxi Rausch. Der Junge lachte. Doch dieses Lachen hatte nichts Befreiendes an sich. Der Urgrund dieses Lachens, so schien es Klotz, war eine tiefe Traurigkeit und eine Wut, die bereit war, alles und jeden vollständig zu vernichten. Das Lachen des Jugendlichen war zu dem Lachen eines alten Mannes geworden, der alle Illusionen und Träume verloren hatte und der bereit war, der Welt Lebewohl zu sagen.
Maxi Rausch schob das Gefährt an. Klotz kam sich vor wie ein Kind in einem Einkaufswagen. Cem Bülent öffnete die Tür des Klassenzimmers und winkte.
»Tüt tüt! Platz für den Lehrerrollator! Freie Fahrt für alte Säcke!«
Die Geschwindigkeit steigerte sich. Klotz begriff, dass er auf den Treppenabgang zuraste.
»Maxi! Halt an! Bitte! Sofort!«
»So, du geiler Bock! Jetzt bekommst du, was du verdienst. Gute Fahrt, Herr Schmierfinger! Oder soll ich Klotz sagen?«
Maximilian Rausch hatte den Projektorwagen losgelassen. Wie über eine Schanze flog das Gefährt über die ersten Stufen hinweg. Dann kam der Aufprall. Warum nur konnte er jetzt nicht ohnmächtig werden, fragte sich Klotz für den Bruchteil einer Sekunde. Um ihn herum splitterte das Holz. Bretter flogen durch die Luft, klatschten gegen Wände, fielen auf die Erde herab. Er lag schon auf dem Boden der Aula, als ihn ein aufgewirbeltes Rädchen am Nacken traf. Dann war alles still.
Klotz versuchte sich aufzurichten. Während seine Hand über den Nacken strich, bemerkte er die Spitzen zweier tadellos geputzter Schuhe, die unter einer Anzughose hervorblitzten. Er hatte die Hand von seinem Hals genommen und konstatierte, dass er Blut an den Fingern hatte. Dann wanderte sein Blick langsam nach oben.
»Herr Dr. Löterich«, begann er verlegen, »was machen Sie denn hier?«
Die Antwort fiel nonverbal aus. Und zwar in Form eines puterroten Kopfes, der jeden Augenblick zu explodieren drohte. Zum ersten Mal bekam Klotz wirklich Angst während seines Undercover-Einsatzes.
»Folgen Sie mir, Bieringer! Sofort!«, knurrte der Schulleiter zwischen zwei Zahnreihen hervor, die sich sichtlich beherrschen mussten, nicht herzhaft zuzubeißen.
Klotz stand auf und klopfte sich ab. Außer ein paar Prellungen und der Verletzung am Nacken schien alles ganz geblieben zu sein.
In einer Schnelligkeit, die er ihm gar nicht zugetraut hatte, war Löterich die Treppe hinauf zum Verwaltungstrakt gestürmt. Klotz glaubte beobachtet zu haben, dass der Schulleiter gar nicht mehr hinkte. Ob das die Aufregung war, die ihn vergessen ließ, dass er das Bein nachzuziehen hatte, oder ob so ein Pferdefuß über Nacht abheilen konnte? Klotz wusste es nicht.
Das Erste, was ihm auffiel, nachdem er das Direktorat betreten hatte, war die fehlende Beleuchtung des Aquariums. Dann sah er in die betretenen Mienen von zwei Lehrkräften, die ihm einigermaßen bekannt waren. Sie saßen hinter dem massigen Bürotisch des Direktors und schienen sich sichtlich unwohl zu fühlen. Löterich hatte Klotz den Rücken zugewandt und wies ihm wortlos, mit ausgestreckter Hand, seinen Platz an. Ein einsamer Stuhl gegenüber dem
Weitere Kostenlose Bücher