Knapp am Herz vorbei
Straßen, Vierteln, Hunden und Katzen. Und es leben nicht nur Penner in diesem Hooverville genannten Elendsviertel. Hier leben ganze Familien. Brave Familien. Willie bremst. Er und Egan sehen sich das Elend an. Scheiß Hoover, sagt Willie.
Ja, sagt Egan.
Schweinefresse. Schachfigur von Rockefeller. Lakai von lauter Wall-Street-Typen. Wusstest du, dass der olle Herbert schon vor seinem dreißigsten Lebensjahr Millionär war?
Ehrlich? Ist das wahr? Herbert wer?
Schließlich erreichen sie Seans Haus, ein gepflegtes Brownstone. Blitzsaubere Vordertreppe, schmucke rote Blumenkästen mit winterfesten orangefarbenen Geranien. Allem Anschein nach ist Sean der erfolgreichste Egan. Diesmal werden Willie und Egan am Bordstein von Seans Frau empfangen. Sie sagt, sie würde eher einen wilden Hund aufnehmen, der vor Tollwut schäumt, als dieses erbärmliche Exemplar von einem Schwager.
Sie schreit Willie an: Er war gut aufgehoben, wo er war. Am Tag, als er verurteilt wurde, haben wir abends ausgelassen gefeiert. Warum haben Sie ihm geholfen auszubrechen?
Er hat mir geholfen.
Und warum hat er eine Glatze?
Das ist eine lange Geschichte.
Tja, jetzt haben Sie ihn am Hals. Möge Gott mit Ihnen Erbarmen haben.
Sutton steht vor dem früheren Standort des Chateau Madrid, inzwischen ein indisches Restaurant. Wonach riecht es hier?, fragt er.
Curry, sagt Knipser und wühlt in seinem Stoffbeutel. Und Kotze.
Erstaunlich, sagt Sutton, dass es in bestimmten Teilen New Yorks genau wie im Gefängnis riecht.
Und was ist an diesem kleinen paradiesischen Fleck so wichtig, Willie?
Gehen wir in die Bar, dann erzähl ich es euch.
Schreiber und Knipser sehen sich an. Eine Bar ist ihnen nicht aufgefallen.
Zu Jimmy’s? Oh, Mr Sutton, der Laden sieht aber ziemlich schrecklich aus.
Hat sicher schon bessere Tage gesehen. Aber wie gesagt, Willie braucht ein Katerbier, und dieser Laden erfüllt meine wichtigste Bedingung für eine Bar.
Und die wäre?
Sie ist offen.
Willie biegt in die Gasse hinter dem Chateau Madrid. Er und Egan schleichen durch eine Seitentür, durch die Küche, in einen dunklen Barraum. Eine Hängelampe glimmt über der Theke, wo ein Barkeeper im weißen Hemd und mit grünen Ärmelhaltern über einer Zeitung lehnt.
Willie räuspert sich. Der Barkeeper blickt hoch.
Ich würde gern Dutch Schultz sehen, sagt Willie.
Der ist unterwegs.
Und Bo Weinberg?
Kennt dich Bo?
Nein.
Dann ist er auch unterwegs.
Ich bin Willie Sutton.
Ja, klar.
Willie tritt ins Licht und zieht Egan am Ärmel. Der Barkeeper sieht von ihnen auf die Titelseite und dann wieder zurück. Seine Augen werden groß. Ein blonder Willie Sutton und ein kahlköpfiger Johnny Egan. Jetzt bin ich aber platt, sagt er.
Barkeeper schlüpft durch eine Geheimtür am Ende der Bar und kehrt wenig später mit Bo zurück. Willie hat Bo noch nie getroffen, kennt aber sein Fahndungsfoto aus den Zeitungen und weiß um den Ruf des Mannes. Der gefürchtetste Killer in New York. Erst im vergangenen Jahr hat er Legs Diamond um die Ecke gebracht.
Was Fahndungsfotos und Ruf nicht vermitteln, nicht vermitteln können, ist Bos Größe. Alles an Bo ist riesig. Sein Kopf, seine Hände, seine Lippen – sogar sein Kinn ist ein übergroßer Fleischklumpen. Willie kann sich nicht vorstellen, wie er dieses Ding rasiert. Bo bedeutet Willie, mit nach hinten ins Büro zu kommen. Willies Füße setzen sich wie von selbst in Bewegung. Er sagt Egan, er soll warten.
Das Büro ist so groß wie eine Sitznische im Silver Slipper. Ein wuchtiger englischer Schreibtisch lässt kaum noch Platz für Hutständer und Aktenschrank. Bo sitzt jetzt hinter dem Schreibtisch. Du gehst ein großes Risiko ein, sagt er. Einfach hierherzukommen. Ins Herz von Midtown. Ganz schön dreist.
Dutch hat mal gesagt, ich soll ihn aufsuchen, wenn ich je in Schwierigkeiten bin. Und ich bin in Schwierigkeiten.
Hab ich gehört. Was brauchst du? Geld?
Nein.
Was dann?
Du müsstest mir etwas abnehmen. Etwas, das mich aufhält.
Willie zeigt mit dem Kopf in Richtung Barraum. Bo zieht die Augenbrauen hoch. Das ist wohl ein Scherz.
Ich wünschte, es wäre so. Er ist ein Trinker und wahrscheinlich nicht ganz richtig im Kopf. Seine Familie will nichts von ihm wissen, und ich verstehe langsam, warum.
Das ist dein Angebot?
Ich kann ihn nicht mitnehmen, aber ich kann ihn auch nicht auf der Straße lassen. Ich muss ihn bei jemandem abgeben, dem ich trauen kann, jemandem, der ein Auge auf ihn hat, ihm eine Arbeit
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