Knapp am Herz vorbei
Brooklyn, Mam.
Ja. Das wissen wir. Aber deine Vorfahren.
Willie kaut langsam auf seinem Lamm, schindet Zeit, was die am Tisch entstandene Spannung noch erhöht. Aus Irland, Mam.
Willie hört nur das Klopfen seines Herzens und die sich vermehrenden Zinsen auf den Bankkonten der Familie Endner. Alle am Tisch, selbst das im Dunkel stehende Personal, scheinen die gleichen Bruchstücke der irischen Geschichte vor sich zu sehen. Druiden, die Menschenopfer an Eichenaltären darbringen. Keltische Krieger, die Caesars Legionen nackt entgegenstürmen. Zahnlose Hexen, die hinter dem goldenen Thron des Papstes Bomben werfen.
Die Endners stammen aus Deutschland, sagt Mrs Endner und sieht aus, als stünde ihr ein unglaublich heftiger Migräneanfall bevor. Aus Hamburg, sagt sie.
Ihr hochmütiger Tonfall verschlägt Willie die Sprache. Selbst ein Hunne ist offenbar besser als ein Mick. Er starrt die Kartoffeln auf seinem Teller an und überlegt, ob er ihn beiseiteschieben soll, um wenigstens ein kulturelles Klischee zu entkräften. Nur Bess’ beruhigender Blick hindert ihn daran, aus dem Zimmer, aus dem Haus, aus Brooklyn zu flüchten.
Am nächsten Abend treffen sich Willie und Bess an einem Wasserspender auf Coney Island. Sie ist blass. Er kennt sie nur mit hochroten Wangen. Er weiß, was gleich kommt, trotzdem trifft es ihn wie ein Schock.
Willie Boy, mein Vater verbietet mir, dich weiterhin zu sehen.
Sie blickt auf ihren Eisbecher. Willie ebenfalls. Seine Sinne sind seltsam geschärft. Er spürt das Eis förmlich schmelzen. Er weiß, was Bess von ihm erwartet, was er sagen soll. Und tun muss. Als er aufblickt, sieht sie ihn fragend an.
Okay, Bess. Ich rede mit ihm.
Sie steigen wieder in den Polara. Die Ereignisse nahmen ihren Lauf, murmelt Sutton.
Was, Mr Sutton?
Bess und ich hatten eine Unterhaltung. Im Januar 1919 . Aus dieser Unterhaltung, diesem Moment ergab sich alles Weitere. Alles. Du musst nur auf dein Leben zurückblicken und nachsehen, ob es einen Augenblick gibt, an dem alles anders wurde. Wenn du diesen Augenblick nicht findest, war er noch nicht da, und dann mach dich gefasst, denn er wird kommen.
Und wo fand die Unterhaltung statt?
Coney Island. Mermaid Avenue. Ich wollte die Stelle auf der Karte einzeichnen. Keine Ahnung, warum ich es nicht getan habe. Vielleicht wollte ich sie nicht sehen. Gibt es etwas Schmerzhafteres als die Erinnerung? Dabei ist es ein selbstauferlegter Schmerz, wir fügen ihn uns selbst zu. Aber vielleicht gilt das für jeden Schmerz.
Aber Sie haben doch gesagt, wir sollten uns erinnern. Dass Erinnerung eine Möglichkeit ist, die Zeit zur Hölle zu schicken.
Hab ich das gesagt?
Willie, diesmal im grauen Title-Guaranty-Anzug, klopft an die Tür in der President Street. Ein Dienstmädchen führt ihn in ein Arbeitszimmer, das vom Vorraum abgeht. Wie geplant, ist Bess mit ihren Freundinnen unterwegs.
Auf dem Fußboden im Arbeitszimmer liegt ein Bärenfell mit allem Drum und Dran. Das Maul sieht aus, als wollte es die Dielenbretter verschlingen, die runde Schnauze ist glänzend schwarz, wie die Acht beim Billard. Über einem Backsteinkamin hängt ein ausgestopfter grauer Wolfskopf mit gefletschten Zähnen.
Willie steht vor einem Mahagonischreibtisch, bedeckt mit ordentlich gestapelten Geschäftsbüchern, Modellschiffen und Brieföffnern, die einen Menschen aufschlitzen könnten. Er hält seinen Hut an der Krempe, tritt einen Schritt zurück, stolpert fast über die Bärentatze. Er überlegt, ob er sich setzen soll. Er würde gern rauchen. Mr Endner kommt durch eine Tür am anderen Ende des Arbeitszimmers. Willie, sagt er.
Mr Endner, Sir. Danke, dass Sie mich empfangen.
Mr Endner nimmt hinter dem Schreibtisch Platz. Er trägt einen blauen Serge-Anzug mit grauer Fliege, und seine Augen sind stumpf, als hätte er eben ein Nickerchen gemacht. Er weist auf einen Stuhl mit gerader Rückenlehne ihm gegenüber. Willie setzt sich. Sie beäugen einander wie Boxer nach dem Einläuten einer Runde.
Der Ring gehört dir, Willie.
Nun, Sir. Ich bin gekommen, weil ich Sie bitten möchte, Ihre Entscheidung noch einmal zu überdenken. Ich glaube, wenn Sie mir eine kleine Chance geben, würden Sie sehen, dass ich ein guter, anständiger Mensch bin, der Ihre Tochter sehr gern mag. Und ich glaube, sie mag mich auch.
Mr Endner dreht einen Füllfederhalter auf der Schreibunterlage. Er verschiebt ein paar Umschläge, legt einen Brieföffner obendrauf, nimmt einen Silberdollar und
Weitere Kostenlose Bücher