Knastpralinen: Ein Hamburg-Krimi (German Edition)
oder auf einer schicken Terrasse in Sorrent. Wenn der Vesuv ausbricht, fliegt die ganze Küste in die Luft. Das Ding hat eine Sprengkraft, die ist absolut tödlich.«
»Oh«, sage ich.
»Aber so ist das im Leben«, sagt er. »Die schönsten Orte sind oft die gefährlichsten.«
Ich hab das Gefühl, jetzt meint er nicht den Vulkan.
»Jetzt meinen Sie aber nicht den Vulkan, oder?«
Er schaufelt sich einen Berg Pommes in den Mund, kaut und schaut wieder aus dem Fenster. Draußen ist Wind aufgezogen. Die Bäume werfen unmotiviert ein paar Blätter ab. Der Calabretta sieht mich wieder an.
»Ich war nach vielen Jahren mal wieder am Grab meines Onkels. Er war zwei Jahre jünger als ich jetzt bin, als sie ihn beerdigen mussten. Ich hätte nicht gedacht, dass mich das so umhaut. Deshalb musste ich dann auch im Dorf bleiben. Bei meiner Tante Giuseppina. Das kann doch so schnell gehen, und schon kommt der Tod, und dann hat man keine Familie mehr.«
Ich weiß, mein Freund, ich weiß.
»Woran ist Ihr Onkel gestorben?«, frage ich.
»Camorra«, sagt er. »Peppino hatte sich mit der Camorra angelegt. Er war Carabiniere, und er hat seinen Job ernst genommen. Da haben die Wichser ihn umgelegt. Sie haben ihn vor San Domenico Maggiore erschossen und da liegen lassen. Vor einer Kirche, verstehen Sie? Die haben aus meinem toten Onkel eine Botschaft gemacht: Lasst uns in Ruhe, sonst geht’s euch wie dem da.«
Er schiebt sich wieder einen Berg Pommes in den Mund und gleich ein großes Stück Currywurst hinterher. Er kann kaum kauen, so voll sind seine Backen.
Ich hab mich immer gefragt, warum der Calabretta so durch und durch Bulle ist, warum er sich manchmal so verbeißt und nie lockerlassen kann. Jetzt weiß ich, warum. Und ich glaube, er neigt zum Kummerspeck.
Ich schiebe meinen Teller weg und schiebe auch seinen zur Seite, dann lege ich meine Hände auf seine Unterarme und drücke fest zu. Ich würde ihm am liebsten sagen, wie gern ich ihn hab und wie gut es ist, mit ihm zusammenzuarbeiten und nicht mit jemand anders, aber das geht natürlich nicht. Stattdessen sage ich:
»Noch ein Bier?«
Er lacht und kaut und nickt, und dann muss ich auch lachen. Ich lasse seine Unterarme los, hebe die Hand und bestelle zwei Bier.
»Ihr verfluchten Saufnasen«, sagt die Rothaarige, die gestern noch pink war.
»Wissen Sie was«, sagt der Calabretta, als er endlich seinen dicken Klops Fast Food runtergeschluckt hat, »es gibt da in Neapel etwas, das sollten Sie sich eines Tages mal ansehen.«
»Was denn?«, frage ich.
Ich weiß beim besten Willen nicht, was ich mir bei den Itakern ansehen sollte.
»Es gibt da eine Kapelle«, sagt er, »ein unscheinbares Ding, findet man nur ganz schwer. In dieser Kapelle liegt ein Marmorjesus. Vom Kreuz genommen, er hat’s hinter sich, jetzt liegt er da. Der liegt da so friedlich, das beruhigt einen unwahrscheinlich, den anzusehen. Der Jesus ist von Kopf bis Fuß mit einem Schleier bedeckt.«
Ein toter Mann aus Stein mit einem Schleier aus Stein. Das ist ja wohl nicht unbedingt was Besonderes in einer Kirche.
»Das ist ja wohl nichts Besonderes«, sage ich.
»Richtig«, sagt der Calabretta. »Aber das Verrückte ist, dass ich diese Figur schon so oft gesehen habe, und jedes Mal muss ich sie wieder anfassen. Weil ich einfach nicht glauben kann, dass der Schleier aus Marmor ist. Der ist so fein und so luftig, der sieht aus, als würde er sich bewegen. Ich hab in meinem ganzen Leben noch nie einen Stein gesehen, der so wenig wie ein Stein aussieht.«
»Und?«, frage ich. »Was hat das jetzt mit mir zu tun?«
»Mit Ihnen ist es genau andersrum«, sagt er. »Ich hab einfach noch nie jemanden gesehen, der so sehr nach einem Stein aussieht und so wenig einer ist. Ich schwöre Ihnen, Riley, wüssten die Leute davon, sie würden Sie auch ausstellen.«
Ich lehne mich zurück und verschränke die Arme vor der Brust. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
»Wie wär’s mit einem Eis?«, fragt der Calabretta und grinst mich so feist an, dass ich nicht anders kann als zurückzugrinsen.
Ich versetze ihm unter dem Tisch einen leichten Tritt, dann stehen wir auf, zahlen, hören uns an, dass wir elende Tagediebe sind, gehen vor die Tür und zur Eisdiele nebenan, holen uns da jeder zwei Kugeln Amarenakirsche und legen uns in die Liegestühle, die auf dem Gehsteig stehen.
Der Calabretta kuckt sich die windigen Baumkronen über unseren Köpfen an. Es weht ein richtig laues Lüftchen. Irgendwie ist es nicht mehr
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