Knecht – Die Schattenherren II
Gesang eines erlesenen Chors Gejaule war. Lisanne hielt den Blick auf die Chaque gerichtet, bis sie verschwunden waren.
Dann wandte sie sich wieder Bren zu.
Er wunderte sich darüber, dass er sie so selbstverständlich ansehen konnte.
Sie kam zu ihm. »Bist du verletzt?«
Bren tastete an seiner Seite, wo der Schuppenpanzer gebrochen war. Rot und feucht klebte Blut an seiner Hand. »Nur Kratzer, Schattenherzogin.«
Sie lächelte. Eine Regung, für die manche Männer gestorben wären und noch mehr gemordet hätten.
»Steh auf, Bren Stonner.«
Mein Name! Sie kennt meinen Namen! So ungehörig es war, in der Gegenwart dieser Osadra aufrecht zu stehen, so undenkbar war es, ihrem Wunsch nicht Folge zu leisten. Bren empfandes als Wunsch, nicht als Befehl. Als Wunsch des Schicksals. Des Plans, nach dem die Welt geformt war. Widerstand wäre unverzeihliche Anmaßung gewesen, eine Störung im Geflecht, das das Leben zusammenhielt.
»Du bist ein Krieger.« Lisanne hob eine Hand, berührte beinahe sein Kinn. »Ich sehe den Mut hinter all der Verwirrung.« Wieder lächelte sie. »Du denkst, ich verstünde nichts vom Krieg. Aber das ist falsch. Meine Art kennt nicht nur die Erfahrungen des eigenen Lebens.«
Bren schluckte. »Die Essenz?«
»Ja. Hier nehme ich noch mehr von den Menschen in mich auf als damals in Ondrien.« Sie wandte sich um. »Folge mir, Krieger.«
Er blieb einen halben Schritt hinter ihr, als sie über die Brücken und durch die weiten Hallen gingen. Hatte er vorher seine Umgebung kaum wahrgenommen, weil er in schweren Gedanken gefangen gewesen war, so war sein Denken nun ganz auf Lisanne gerichtet. Es kam ihm unwirklich vor, so dicht bei einem vollkommenen Wesen zu sein, dass er es hätte berühren können. Das hätte er niemals getan, es war unvorstellbar, sich Lisanne weiter zu nähern. Unauffällig wand er sein Schweißtuch um den Schnitt an der linken Hand.
»Du wirst vielleicht verstehen, Bren.«
»Was verstehen?« Er bemerkte, dass sie die Elfenbeinkrone nicht bei sich hatte. Bedeutete das, dass sie ihm eröffnen wollte, dass sie sich entschieden hatte, dem Befehl des SCHATTENKÖNIGS zu trotzen? Der Gedanke fühlte sich an wie eine Giftschlange, die an der Brust zischelte. Zugleich war Bren von der Gewissheit überzeugt, dass jede Entscheidung, die sie traf, unumstößlich richtig war.
»Der Seelennebel schafft eine besondere Umgebung. In Tamiod ist möglich, was mir in Ondrien verwehrt war.«
Für Bren war kaum vorstellbar, dass einer Schattenherzogin in Ondrien etwas unmöglich gewesen sein sollte. Ihn schwindelte bei dem Gedanken, dass jemand Lisanne etwas willentlich hätte vorenthalten können.
»Hier kann ich die Sonne niederhalten. Die Grenze zu anderen Wirklichkeiten ist durchlässig. Die Götter können Gesetze der Natur nicht bedingungslos erzwingen.«
Er hatte das Gefühl, Lisanne erwarte eine Antwort von ihm. Mühsam brachte er hervor: »Ich sah Euch in den Träumen.«
»Ja. Hier bin ich die Göttin. Ist das nicht amüsant?«
Bren fand nichts Erheiterndes daran. Er fand es angemessen.
»Hier kann ich die Wirklichkeiten formen, vermischen, aus Schrecken und Sehnen Greifbares schaffen. Magie, die erschafft, anstatt zu zerstören, hast du davon schon einmal gehört?«
»Niemals, Herrin.«
»Die Menschen zahlen einen Preis dafür. Wann immer sie träumen, geben sie von ihrer Lebenskraft. Kaum einer wird älter als dreißig Jahre, obwohl es keine Krankheiten gibt.«
Für Bren war das Alter der Tamioder schwer zu schätzen. Er hatte vermutet, dass dies an den fremden Zügen lag, den Eigenheiten eines fremden Volkes. Jetzt begriff er, dass es in den Auswirkungen der Träume eine weitere, sogar die wichtigere Ursache hatte. Er versuchte sich vorzustellen, welche Menge an Lebenskraft das bedeutete. Soweit er wusste, gab es nur drei Osadroi in Tamiod. Und wie viele Menschen? Einhunderttausend vielleicht? Die jede Nacht … Wie mühelos im Vergleich zu den Riten des Kults!
»Sogar in das Nebelland kann ich greifen.« Plötzlich war etwas entsetzlich Trauriges in ihrer Stimme.
Es erschütterte Bren so tief, dass Tränen in seine Augen stiegen. Wie nur konnte er das Leid lindern? Ein Wesen wie Lisanne durfte keinen Kummer empfinden! Sie war der Grund, aus dem die Welt existierte!
»Auch nach diesen Jahrzehnten, auch, da Tamiod ganznach meinem Wunsch geformt ist, reicht meine Macht nicht aus.«
»Wozu, Herrin?«
»Du wirst es sehen. Und ich will hören, was du dazu zu sagen
Weitere Kostenlose Bücher