Knecht – Die Schattenherren II
sein würde, wäre mit keinen Schwierigkeiten mehr zu rechnen. Nur für den Fall, dass ihre Reise noch über den Nachtschattenwald hinausführte, hätte Bren gern ihre Schlagkraft zu seiner Verfügung gewusst. Kaum stand er neben Velon und Gadior vor König Ilion, bestätigte dieser seine Befürchtung. »Lisanne ist schon lange nicht mehr hier.«
Drei Tage waren sie im Nachtschattenwald unterwegs gewesen, ihre Begleiter hatten sie verschlungene Pfade geführt, damit sie die Richtung verloren. Der Wald war so dicht, dass der Himmel nur selten zu sehen war. Orientierungspunkte in der Ferne ließen sich wegen der begrenzten Sicht ebenfalls nicht ausmachen. Man musste wohl ein Fayé sein, um sich hier zurechtzufinden. Es gab Wege, merkwürdig geformt aus Ästen und Wurzeln, die sich so dicht über den Boden legten, dass sie eine halbwegs ebene Fläche bildeten. Dabei waren sie nichtparallel angeordnet, sondern kreuzten sich, verwirrten sich zu Knäueln, tauchten in das Gemenge ab und wieder daraus hervor. Neben diesen Wegen wuchsen die Bäume, als wollten sich ihre Stämme zur Seite neigen, sich möglichst weit entfernen. Auch einzelne Stränge des Weges wanden sich hervor, als flüchteten sie vor einer Qual, die ihnen die Gemeinschaft mit den anderen bereitete, und würden doch zurückgezwungen, dem Willen der Fayé gemäß.
Überall im Nachtschattenwald hatte Bren den Eindruck einer geknechteten, sich in Pein windenden Natur gefunden. Sutor war sichtlich nervös, schnappte immer wieder nachseinem eigenen Schwanz. Aus Ondrien kannte Bren Ghoule, Wesen, die nicht lebten und nicht tot waren und auch keine Osadroi, sondern Verfluchte, deformierte Leichenfresser mit großen Körperkräften und beinahe erloschenem Geist, in deren kleinen Augen nur selten etwas aufblitzte, und wenn dies geschah, war es immer die Sehnsucht nach Erlösung. Beinahe alles im Nachtschattenwald erinnerte Bren an diese Ghoule, die merkwürdig verwachsenen Bäume, das Buschwerk, dessen Zweige sich wanden wie die Finger eines Verwundeten, der sich wahnsinnig vor Schmerz die eigenen Gedärme aus dem Bauch zog, auch die Tiere, denen sie begegneten, Karnickel mit Reißzähnen, ein Reh mit zwei vom Fell entblößten Köpfen.
Dieser Ort hier war so anders, dass Bren zwinkerte, um sicherzugehen, dass er keinem Trugbild aufsaß. Sie standen an einer Art Wasserscheide, nur dass sich hier die Bäume trennten. Woher sie kamen, waren es die knorrigen, verwachsenen, dunklen Gestalten, die sich von dem, was dann folgte, offenbar so abgestoßen fühlten, dass es aussah, als wären sie erstarrt, während sie sich beinahe flach am Boden wanden, um von diesem Ort fortzukommen. Dort, wo Ilion stand, spross grünes Gras aus dem Boden, nicht das meist scharfkantige rote oder knochenweiße Gestrüpp, an das sich Bren beinahe schon gewöhnt hatte. Die mächtigen, gerade aufragenden Baumriesen ließen nicht nur das Sternenlicht herab, ihre leise im Wind klingelnden Blätter leuchteten von innen heraus. Aus einem Baum ergoss sich ein kleiner Wasserfall in einen See. Wo er in die spiegelnde Oberfläche schäumte, stieg feiner Nebel auf, in dem ein Regenbogen schillerte. Schlingpflanzen hingen von den Ästen, Blüten mit irisierenden Stempeln tranken das Sternenlicht. In vielen Baumstämmen taten sich Öffnungen auf. Bren vermutete, dass er Fayéhäuser sah, aber solche, wie sie die alten Fayé gekannt hatten. Märchen kündeten davon, dass sie den Wald besungen, ihn verführt hatten, zu geben, was ihnen das Leben angenehm gemacht hatte. Die heutigen Fayé vergewaltigten ihn, um zu erzwingen, was sie begehrten.
»Ja, Mensch, dieser Ort ist besonders«, stellte Ilion fest, der Brens Gesicht musterte. »Und er ist sehr alt.«
Bren wusste nichts darauf zu sagen. Er nickte.
»Erstaunlich«, flüsterte Velon. »Ganz erstaunlich. Nach fünfhundert Jahren gibt es nur noch wenige Nächte, die mir Überraschungen schenken. Diese ist eine davon.«
»Wenn Ihr mir folgen wollt …« Trotz der einladenden Geste vermittelte Ilion nicht das Gefühl, die Besucher seien ihm willkommen.
Bren überlegte, woran das lag. Der Gesichtsausdruck des Königs war ebenso wenig zu deuten wie der seiner Wachen, zu fremd waren die Züge der Fayé. Oder war es doch möglich, Ausdruck in den Nebeln zu lesen, die ihnen die Augen ersetzten? Wallten sie nicht rasch, aggressiv?
»Ich rate zur Vorsicht«, murmelte Bren.
Gadior sagte: »Lisanne ist also hier gewesen, auch wenn es einige Zeit her
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