Knigge fuer Individualisten
hervorragend, der Hauptgang würde mir vielleicht
würziger abgeschmeckt noch besser gefallen.« Nur nicht weh tun! Auf Eleganz
legt er wenig Wert. Er kleidet sich bequem und praktisch: Ein Pullover gegen
die Kälte, feste Schuhe für einen sicheren Stand, ein Rucksack für den
Laptop, das tut’s allemal. Für einen Vater mit Kleinkind auf dem Arm steht
eine Vertreterin dieses Stils im Bus natürlich auf: »Bitte.« Bleibt aber der
Dank aus, ist ein Schmollmund zu erwarten.
Höflich wie bei Hofe:
der Traditionelle »alter Schule«
Wer den traditionellen Stil bevorzugt, wahrt die
Distanz und verzichtet auf große, ausladende Gesten. Als Herr verabreicht er
einer Dame zur Begrüßung einen Handkuss, gegenüber Höhergestellten ist eine
leichte Verbeugung selbstverständlich, im voll besetzten Zug bietet er Damen
seinen Platz an. Die Mimik ist verhalten, man
gibt sich bedeckt. Der Traditionelle bevorzugt kleine Gruppen, er
spricht wenig und leise – bis sein Lieblingsthema aufkommt. Ihm
vertraute Sachverhalte werden detailliert dargestellt: »Dazu sollte man
Folgendes in Betracht ziehen …« Die Kleidung ist gepflegt und konservativ
und entspricht den tradierten Rollenmustern: Der Herr trägt stets Jackett,
die Dame eher ein elegantes Kleid als einen burschikosen Hosenanzug. Die
Sprache ist gewandt und korrekt. Sie enthält viele Passivsätze und
substantivierte Verben und klingt z. B. so: »Es ist im Allgemeinen als
passend anzusehen, wenn der Empfehlung Folge geleistet wird.« Über die
Gefühlslage kein Wort.
DIE KNIGGE-STILE: KLEINE SEHSCHULE
Sie kennen jetzt die vier Grundtypen. Aber erkennen
Sie sie in freier Wildbahn? Trainieren geht über Studieren, auch beim
Sehen und Hören. Beginnen Sie Ihre Beobachtungs-Übungen aber bitte
nicht mit Ihrem Lebenspartner. Der würde sonst bald misstrauisch
fragen: »Hörst du mir überhaupt zu?« Je weniger Sie emotional
beteiligt sind, desto besser. Achten Sie im Taxi weniger auf die Fahr-
als auf die Verhaltensweise des Chauffeurs. Schauen Sie im Zug den
Reisenden bei ihren Interaktionen zu. Verfolgen Sie das Verhalten
einer Kundin an der Kaufhauskasse oder das eines Gasts bei einem
Fest.
Betrachten Sie die Körpersprache:
Wie konzentriert oder entspannt ist die Mimik? Wie offen oder
gezielt sind die Gesten, wie schnell oder bedacht wird agiert?
Wie viel Nähe lässt jemand zu, wie viel Distanz hält er zu
anderen?
Nehmen Sie die Wörter und den
Satzbau eines Sprechers wahr. Sagt er eher: »Guten Tag« oder
»Hallöchen«? Eher »Sie dürfen dort Platz nehmen«, oder »Setzen
Sie sich nur«? »Auf Wiedersehen« oder »Tschüssi«? Sind die
gewählten Begriffe eher weich und vorsichtig oder kernig und
präzise?
Hören Sie Zwischentöne heraus: Wie
schnell oder bedächtig spricht da jemand, wie lautstark oder
verhalten? Sind die Fragen in Bitten gekleidet »Dürfte ich kurz
anfragen …?«, oder direkt formuliert: »Wozu das
Ganze?«
Seien Sie erst einmal vorsichtig in Ihrer
Einschätzung. Denn jeder kann seinen Stil wechseln, z. B. wenn er
unter Stress gerät. Das tun Sie selbst vermutlich auch. Vorsicht mit
vorschnellen Urteilen. Beobachten Sie Verhalten immer in seinem
Verlauf. Und betrachten Sie Ihr Ergebnis stets als Hypothese, die Sie
bei genauem Hinsehen bestätigen können oder verwerfen
müssen.
»Irgendjemand sieht dich immer.« Haben auch Sie noch
diese Warnung im Ohr? Mütter, Großmütter, Patentanten dachten dabei an
Sünden wie Rauchen auf dem Schulweg, Nacktbaden am Baggersee, Händchenhalten
mit dem »Falschen« … Der Hinweis auf die allgegenwärtige soziale Kontrolle
sollte uns vor Schaden aufgrund von Fehlverhalten bewahren. Ob das
pädagogisch sinnvoll war? Das sei dahingestellt.
Richtig aber ist, auch heute noch: Wir werden ständig
wahrgenommen, gerade als Erwachsene, und zwar von all den Leuten, die heute
für uns wichtig sind und die uns am Herzen liegen. Man übersieht uns
(hoffentlich!) nicht. Wir werden beurteilt, gemocht, geschätzt oder
respektiert – mehr oder weniger. Grund genug, sich über unsere Wirkung
Gedanken zu machen. Nicht nur wenn wir im Dienst, sondern gerade wenn wir
ganz wir selbst sind: bei der Begegnung mit Freunden, Bekannten, Nachbarn,
allein auf der Straße, in Bus und Bahn.
DER
GRUSS UND SONSTIGE ANNÄHERUNGEN
Sympathisch oder unsympathisch? Interessant oder
uninteressant? Gut
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