Knochen-Mond
die Haut wirkte, als wäre sie über die Knochen gespannt worden.
Es sprach ihn niemand an, und so schritt Suko weiter in das Schweigen hinein.
Wo lebte Tom Evans?
Suko ahnte, daß ihm auf seine Frage niemand eine Antwort geben würde, mußte es aber herausfinden und suchte sich einen Mann aus, der in der Nähe auf einem Schaukelstuhl hockte und trüb in die Gegend schaute. Der Mann trug einen langen, grauen Mantel. Er stand offen. Über seine Brust spannten sich die Hosenträger, als wären sie als helle Streifen auf das dunkle Hemd gemalt worden. Der Mann schaute nicht auf. Nur der Schaukelstuhl bewegte sich, und Suko blieb in Sprechweite vor ihm stehen.
»Guten Tag.«
Der Mann schaute jetzt auf. Sehr langsam hob er den Kopf und gleichzeitig die rechte Hand, mit der er durch sein Gesicht strich und dabei die Finger spreizte.
Es sah so aus, als wollte er sich die Haut aus dem Gesicht ziehen. Er spannte sie nur noch weiter, und wieder konnte Suko einen Blick dahinter werfen.
Was ersah, ließ ihn jetzt nicht mehr schaudern. Dünn zeichneten sich die Knochen dahinter ab.
Schließlich sank seine Hand wieder nach unten, und die Haut glitt zurück in die alte Stellung, wobei sie sich bewegte, als wäre sie aus Gummi.
»Darf ich Sie was fragen?«
Der Mann schüttelte den Kopf.
»Warum nicht?«
»Niemand fragt hier.«
»Aber es ist normal, wenn…«
»Ich träume«, sagte Sukos Gegenüber. »Ich träume, verstehst du das nicht? Heute nacht wird er wieder am Himmel stehen. Ich kenne dich nicht. Geh weg.«
»Ich will nur wissen, wo sich Tom Evans befindet. Sag mir, wo ich ihn finden kann?«
»In seinem Haus.«
»Das hatte ich mir gedacht, aber wo…«
»Er kann auf den Felsen schauen, über dem der Mond steht. Er sieht es von seinem Fenster…«
»Es reicht, lieber Freund.«
Suko hatte den Mann nicht gehört, der hinter ihm stehengeblieben war und eine Frage gestellt hatte, aber er kannte die Sterne. Es war der Alte vom Heuwagen.
Er trug noch immer seinen Hut. Das bleiche Gesicht sah auch nicht anders aus. Aber er zeigte sich jetzt kooperativer als bei ihrer ersten Begegnung, denn er sprach Suko an.
»Du willst unbedingt zu ihm?«
»Wenn Sie Tom Evans meinen, dann ja.«
»Ich werde dich führen.«
So einfach machte Suko es dem Alten nicht. »Weshalb dieser Sinneswandel, Mister?«
»Wollen Sie oder wollen Sie nicht?«
»Doch, doch, ich will schon.«
»Dann folg mir.« Er ging, ohne nachzuprüfen, ob Suko auch hinter ihm herkam.
Dem blieb nichts anderes übrig, denn er mußte diesen Tom Evans einfach sprechen. Schließlich konnte er so etwas wie die Lösung des Rätsels sein. Der Mann hinter Suko begann wieder mit seiner Schaukelei. Das knarrende Geräusch begleitete den Inspektor eine Weile.
Suko hatte den Alten mit wenigen Schritten eingeholt. Der Mann schaute nicht zur Seite, blickte stur geradeaus und traf auch keine Anstalten, ihn anzusprechen.
Ein uralter Mercedes parkte dicht vor einer Straßenecke. In ihm saß eine Frau. Ihr Gesicht schimmerte durch die schmutzigen Scheiben. Sie rührte sich nicht, sah aus, als würde sie schlafen. Auch jetzt wurden die beiden Männer von zahlreichen Augen beobachtet. Nur traute sich niemand, sein Haus oder seine Wohnung zu verlassen. Sie blieben hinter den Mauern wie in Gefängnissen. Irgendwann mußten sie in eine Gasse einbiegen. Sie lag links der Hauptstraße und führte dorthin, wo die Häuser nicht mehr so dicht standen. Hecken schützten sie gegen den Wind, auf dem Boden lag Staub, und so manche Fassade hätte zumindest mal gestrichen werden müssen.
Suko erinnerte sich daran, daß der Mann auf dem Schaukelstuhl von einem Felsen gesprochen hatte. Er wollte wissen, was es damit auf sich hatte, bekam auf seine diesbezügliche Frage von seinem Begleiter keine Antwort.
Schließlich war er es leid und hielt den Alten an der linken Schulter zurück. »Verflixt noch mal, was ist mit dem Felsen, den auch Tom Evans von seinem Haus her sehen kann?«
»Es ist gefährlich.«
»Wieso?«
»Er ist unwürdig. Er darf nicht träumen, aber er hat geträumt, und das wurde ihm zum Verhängnis.«
»Lebt er denn?«
Zum erstenmal sah Suko so etwas wie eine menschliche Regung im Gesicht des Alten, »heben und leben ist ein Unterschied. Ja, vielleicht lebt er noch.«
»Was heißt das?«
»Er hat uns verraten, und deshalb werden ihn seine Träume umbringen. Das steht fest.«
»Darf ich fragen, wer die Träume schickt?« Der Alte ging weiter. »Ist es
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