Knochen-Mond
Jericho?«
Suko bekam keine Antwort. Ihm blieb nichts anderes übrig, als dem Mann zu folgen.
Allmählich fing er an, sich zu ärgern. Er kam sich vor wie jemand, der an der Nase herumgeführt wurde, dem man nur hin und wieder eine kleine Information gab, um seine Neugierde weiter anzustacheln. Wie ein langes Dreieck stand ein baufälliger Schuppen vor. Der Alte und Suko umrundeten ihn, und wenig später wußte der Inspektor, was sein Informant vorhin mit dem Felsen gemeint hatte, denn jetzt sah er ihn selbst. In der oberen Partie sah der Fels aus wie ein weit aufgerissenes, gewaltiges Maul.
Das rauhe Gestein sah aus, als wären zahlreiche Platten aufeinandergelegt worden. Eine Arbeit, mit der sich eine ganze Generation von Menschen beschäftigt hatte.
Der Alte war stehengeblieben. Suko wunderte sich über dessen Haltung und auch über seinen Gesichtsausdruck, der so etwas wie Andacht oder Respekt aufwies.
Über dem Felsen zeichnete sich der Himmel in seinem düster-diesigen Grau ab, als wäre eine Decke davorgezogen worden, die nur aufriß, wenn der Mond sichtbar wurde.
»Was ist mit ihm?«
Der Alte räusperte sich. Erst dann konnte er sprechen. »Er ist wie ein Schwamm, aber er saugt kein Wasser auf, er beinhaltet unsere Träume, und er gibt sie wieder ab.«
»Also wie ein Speicher?«
»Ja, so ist es.«
Darauf konnte sich Suko keinen Reim machen. Außerdem war aus der Distanz das Rätsel des Knochenmonds oder des Traumfelsens sowieso nicht zu lösen.
»Wohnt Evans dort?« fragte Suko und deutete auf ein ziemlich kleines Haus, das in einem sehr günstigen Blickwinkel zum Felsen stand. Er besaß einen Garten, ebenfalls nicht sehr groß. Man konnte ihn mit drei Schritten durchmessen.
»Ja, das ist sein Haus.«
»Er paßt nicht zu den übrigen Bewohnern, wie?«
Der Alte schaute Suko nur von der Seite an, gab keine Antwort. Dafür verzog er die Mundwinkel.
Wieder ein Zeichen für Suko, wie wenig beliebt der Fremde war. Er bekam auch die Bestätigung, denn sein Begleiter sprach weiter. »Er gehört nicht zu uns, er ist ein Fremdkörper in unserem Dorf. Er hat nie zu uns gehört, verstehst du?«
»Nicht direkt. War er ein Fremder?«
»Ja. Er kam aus London. Wir wollten ihn nicht, aber er nistete sich hier ein. Er war nicht zu belehren, obwohl wir ihm sagten, daß Fremde, die nicht akzeptiert werden, hier auch nicht herauskommen. Jedenfalls nicht so, wie sie hergekommen sind.«
»Bin ich damit ebenfalls gemeint?«
»Das denke ich schon.«
»Man kann sich wehren«, sagte Suko bewußt provokant. Er hörte das Lachen des Alten. »Sich wehren? Gegen die Träume? Gegen den Alp?«
»Warum nicht?«
»Es geht nicht. Die Träume sind ein Teil von uns, und sie sind der stärkere Teil. Du wirst es erleben. Es ist nicht einmal falsch, wenn ich dir vorschlage, schon jetzt nach einem Grab Ausschau zu halten. Du hast die Warnung mißachtet, denke daran. Jetzt bist du ein Gefangener, obwohl es nicht so aussieht.«
»Aber ich träume nicht.«
»Das kommt automatisch. Und du wirst in all deinen Alpträumen das finstere Grauen erleben. Es wird dich so stark beeinflussen, daß du nicht mehr rauskannst.«
»Mal sehen.«
Suko brauchte nicht mehr weit zu gehen. Sie schritten durch einen Vorgarten, in dem bunte Sommerblumen wuchsen. Überragt wurden sie von zwei hohen knallgelben Sonnenblumen.
Die Haustür war nur angelehnt. Der Alte trat sie mit einem einzigen Fußtritt nach innen. Er hatte dabei seine Mundwinkel verzogen, als würde er sich davor ekeln, das Haus überhaupt zu betreten. Er ging noch nicht hinein. Auf der Schwelle drehte er sich um, starrte Suko an. »Was ist?«
»Wenn du dieses Haus betrittst, wirst du es so nicht mehr verlassen können, wie du hineingegangen bist. Das sollte dir schon klar sein.«
»Was geschieht denn?«
»Du wirst Gefangener deiner eigenen Träume werden. Der Felsen wird seinen Schatten auf dich werfen, damit er dich umfängt wie ein langer Mantel. Dieser wiederum wird sich tief hinein in deine Seele drücken, dir keine Chance mehr lassen.«
»Soll ich es mir noch überlegen?«
Der Alte hob die Schultern. »Es ist dein Leben, nicht meines.«
Suko lächelte. »Ich würde vorschlagen, daß du das Haus betrittst. Oder wirst auch du der Gefangene deiner Träume?«
»Das bin ich. Im Gegensatz zu Tom Evans lebe ich noch. Und die anderen ebenfalls. Wir alle gehören zusammen, aber Evans nicht. Die Träume des Fremden werden nicht akzeptiert.« Es waren seine vorerst letzten Worte,
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