Knochen-Poker
wollte den Kleinen überraschen und suchte nach einem Versteck. Nur eine Lampe ließ er brennen. Ihr Schein reichte nicht bis in die Lücke zwischen zwei dunklen Regalen, in die sich Tommy hineinklemmte und auf seinen Besuch wartete.
Li ließ sich Zeit. Wahrscheinlich schaute er sich noch im Flur um. Er hatte zwar keine Angst, zu Tommy zu kommen, unheimlich war es ihm bei jedem Besuch, das hatte er einmal gesagt.
Moore behielt die Ladentür im Auge. Er konnte erkennen, dass sich die Klinke nach unten bewegte und die Tür vorsichtig geöffnet wurde. Li war sehr klein. Über den Verkaufstresen konnte er nicht schauen, und Tommy sah ihn zunächst nicht. Er bekam den Eindruck, als würde die Tür von einer Geisterhand aufgeschoben.
»Tommy…« Ein schwacher Ruf durchdrang den Verkaufsraum. »Wo steckst du denn?« Moore gab keine Antwort. Er lauerte…
Li konnte sich lautlos bewegen. So sah Tommy den Kleinen erst, als er schon einige Yards in den Laden hineingegangen war. Dabei geriet er auch in den Lichtschein. Sein Schatten war größer als Li selbst. Li war schon älter, wirkte aber alterslos. Er hatte eigentlich schon immer so ausgesehen mit seiner faltigen Haut, den Schlitzaugen, dem schmalen Mund und dem breiten Kinn. Auf seinem Kopf wuchsen nur wenige Haare. Die aber hatte er zu einem Zopf gedreht, der bei jedem Schritt im Rhythmus mitpendelte. Li trug schwarzblaue Kleidung. Einen Kittel und Pluderhosen. Darin wirkte er wie eine Gestalt aus dem letzten Jahrhundert.
»Tommy!« Fast weinerlich klang seine Stimme. »Willst du deinen alten Freund Li so reinlegen?« Und Moore schwieg weiter. Li aber wurde nervös. Er blieb zwar auf der Stelle stehen, sein Körper aber geriet in tänzelnde Bewegungen. »Bitte, Tommy, ich habe auch etwas für dich. Was ganz Besonderes. Als du nicht da warst, habe ich es gefunden. Es gibt eine kleine Insel nicht weit von Atlantic City entfernt. Dort ist auch ein alter Friedhof. Ich… ich bin mir sicher, dass du dort Gebeine finden wirst. Wir haben auf dem Friedhof eine Filmszene gedreht. Glaub mir, ich…«
»Hör auf, Li!« Tommy hatte gesprochen, und der kleine Chinese war heftig zusammengezuckt.
»Du bist ja doch da?«
»Sicher.«
»Warum versteckst du dich dann?«
Moore fing an zu lachen. »Glaubst du eigentlich an Vampire, Tommy? Sag ehrlich, glaubst du daran?«
»Ich kenne Filme… habe auch schon mitgespielt…«
»Das meine ich nicht. Glaubst du, dass es tatsächlich Vampire gibt?«
Li verdrehte die Hände. »Du kannst fragen Tommy. Ich weiß es doch nicht.«
»Möchtest du denn gern ein Vampir sein?« drang es flüsternd aus der Nische zwischen den beiden Regalen.
»Nein, ich…«
»Du würdest die Kraft bekommen, die du dir immer gewünscht hast. Du wärst ein anderer, ein…«
»Mach doch keinen Quatsch, Tommy!«
»Das ist kein Quatsch.« Mit diesen Worten löste sich Moore aus seiner Deckung. Er kam sehr langsam vor und tauchte nur allmählich aus dem Schattengrau auf. Die Gestalt wuchs dem Liliputaner entgegen, sie vergrößerte sich, und Li musste den Kopf in den Nacken legen, um Tommy überhaupt zu erkennen.
Zuerst tat sich bei dem Kleinen nichts. Dann merkte er, dass mit seinem Freund etwas nicht stimmte, und der Schrecken zeichnete sich intervallweise auf seinem Gesicht ab. Die untere Hälfte schien aus der Fassung zu laufen. Seine Wangen begannen zu zucken, der Mund stand plötzlich offen. Aus ihm drangen Laute, wie sie Li selbst noch nicht gehört hatte.
»Erkennst du mich, Li?«
»Tommy… Tommy«, ächzte der Liliputaner. »Du bist verrückt, du bist wahnsinnig. Was soll das geben? Ich kann es nicht fassen. Was sollen denn die Scherze?«
»Es sind keine Scherze, Li!«
»Nimm doch die Maske ab.«
Moore kümmerte sich nicht um den Wunsch seines Besuchers und sagte statt dessen: »Schau genau in mein Gesicht, Li. Vor allen Dingen auf den Mund.«
Den öffnete Tommy, und Li konnte nicht anders. Er musste die beiden Vampirzähne einfach sehen, die sich hell vor dem Hintergrund der grauen Maske abhoben.
»Nun?«
Li bekam Angst. Er war ein sehr sensibler Mensch. Auf einmal hatte er das Gefühl, hier keinen Verkleideten vor sich zu sehen. Was Tommy zur Schau trug, war echt. Fahrig wischte der kleine Chinese über sein Gesicht. Er konnte es nicht fassen. »Bitte, Tommy, was ist los?«
»Ich habe dir von einem Vampir erzählt und dich gefragt, ob du einer sein willst? Du hast eine ausweichende Antwort gegeben, so lass dir jetzt sagen, dass ich ein
Weitere Kostenlose Bücher