Knochen-Poker
dass es nicht mehr summte. Der Kunde hatte aufgegeben, und Kathleen sah den Zwerg. Er hielt das andere Ende des zum Lasso gedrehten Seils in der Hand und grinste breit. Es war ein widerliches Grinsen, das sein Gesicht entstellte.
Kathleen sah sein Gesicht und erschrak fast zu Tode. Aus dem Oberkiefer des breiten Mundes wuchsen zwei lange Zähne, wie man sie sonst nur bei Vampiren sieht…
War Li zu einem Vampir geworden? Für Kathleen unvorstellbar. Nein, so etwas gab es nur im Kino oder in den entsprechenden Romanen. Er musste sich ein künstliches Vampirgebiss in den Oberkiefer gesteckt haben, um sie zu erschrecken. Aber er sah so verdammt echt aus… Allmählich kamen Kathleen Zweifel. Sie dachte auch daran, dass sich Tommy nicht gezeigt hatte, und sie versuchte jetzt, ihre Arme aus der Umklammerung zu befreien. Das gelang ihr nicht.
Li blieb so nahe neben ihr stehen, dass seine Fußspitzen sie fast berührten. Noch immer grinste er gemein und teuflisch. In seinen Augen stand ein kalter Glanz. Endlich konnte er einmal auf einen Menschen hinabschauen, sonst war es immer umgekehrt.
Trotz der Kopfschmerzen gelang es ihr, sich auf die realen Dinge zu konzentrieren. »Was… was soll die Verkleidung?« fragte sie.
Li lachte knapp. »Es ist kein Verkleidung.«
»Wieso…?«
»Ich bin ein Vampir!«
Kathleen lachte unecht. »Das warst du vor einer Woche noch nicht, als ich dich zum letzten Mal sah.«
»Stimmt genau.«
»Und wie kommt es, dass du jetzt ein Vampir bist?«
»Daran trägt dein Freund Tommy die Schuld. Er hat mich zu einem Blutsauger gemacht!« zischte der Chinese.
Kathleen wollte etwas sagen, das schaffte sie nicht. Nur nachdenken konnte sie noch und kam auch zu einem Ergebnis. »Soll das heißen… soll das heißen, dass auch er…?«
»Ja, Tommy ist ein Vampir, und er wartet auf dich!« Der Liliputaner hatte die Worte voller Wut ausgestoßen, als wollte er dem Mädchen noch seelische Schmerzen bereiten.
Kathleen konnte nur staunen. Vor Angst brachte sie kein Wort heraus. Es rieselte kalt über ihren Rücken, als sich der Kleine bückte und sich seine gespreizten Hände ihrem Gesicht näherten. Die Augen wirkten dabei wie böse blickende Kugeln, sie waren auf das Opfer gerichtet.
»Dein Blut«, flüsterte er. »Es hätte mir gefallen. Es wäre wunderbar gewesen, weißt du…?« Seine Hände waren in ständiger Bewegung und schufen Kreise über Kathleens Gesicht. »Aber leider«, so redete er hechelnd weiter, »ist dies nicht möglich. Du bist nämlich versprochen. Tommy will dich haben und dir das Blut aussaugen.«
Den Kopf konnte Kathleen bewegen. Sie schüttelte ihn. »Das… das ist doch nicht wahr - oder?«
»Es stimmt alles.«
»Tommy kann kein Vampir sein!« schrie sie plötzlich, bäumte sich auf, wurde aber von den Händen wieder zurückgedrückt.
»Doch, ich bin ein Vampir!«
Sie hörte die höhnische Stimme. Gleichzeitig sprang Li auf und huschte zur Seite weg, damit Kathleen freie Sicht auf die Person bekam, die sich ihr näherte. Es war Tommy, der Vampir!
Er hatte seine Lippen so weit zurückgezogen, dass sie die beiden oberen, spitzen Hauer sehen konnte, als Lampenlicht über sie flirrte und ihnen eine gelbliche Farbe gaben. Doch es waren nicht nur die beiden Zähne, die Kathleen so erschreckten, das Gesicht gehörte ebenfalls dazu. Eine widerliche, grauschwarze Maske, die jede Gesichtsbewegung mitmachte.
Er blieb dort stehen, wo sich auch Li aufgehalten hatte. Dabei starrte er Kathleen an. Sie wunderte sich selbst, dass sie dem Blick standhalten konnte, aber tief im Innern spürte sie diese grauenhafte bohrende Angst, die einer Messerklinge gleich durch ihre Seele schnitt.
»Du…«, ächzte sie. »Es… ist kein Scherz, Tommy? Wirklich kein Spaß?«
»Nein, ich werde dein Blut trinken, und ich habe auch schon das des kleinen Li getrunken.«
»Das… das kann ich mir nicht vorstellen. Du bist doch kein Ungeheuer…«
»Da hast du nicht ganz recht. Ich las von einem alten Vampirschädel, der in der Nähe von London versteckt war. Ich habe ihn gesucht, auch gefunden, und er gab mir die Macht, mich verwandeln zu können. Wenn ich ihn aufsetze, werde ich zu einem Vampir, verstehst du?«
»Nein!«
»Nehme ich ihn ab, Kathleen, bin ich wieder ein Mensch. Ich führe also eine Doppelexistenz.«
»Das kann ich nicht glauben.«
»Du brauchst es nicht. Wenn du erst einmal zu meinem Kreis gehörst, wirst du anders darüber denken.«
»Wie denn?«
»Warte ab.«
Kathleen
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