Knochen zu Asche
legte meine Sonde weg, befeuchtete ein Tuch und wischte mit der Fingerspitze über die Höhlendecke. Erde löste sich, und in der oberen, äußeren Ecke der Augenhöhle kam narbiger, poröser Knochen zum Vorschein.
Cribra orbitalia.
Das war doch etwas. Oder nicht? Die Krankheit hat zwar einen exotischen wissenschaftlichen Namen, und die entsprechenden Schädigungen treten vorwiegend bei Kindern auf, aber ihre Ursache konnte bis jetzt noch nicht zufriedenstellend erklärt werden.
Ich ging im Geist die Liste der möglichen Übeltäter durch. Eisenmangelanämie? Vitamin-C-Mangel? Infektion? Pathogener, soll heißen krank machender Stress?
Alle vier? Keiner der vier? Nur A und B?
Ich war ratlos wie zuvor.
Zu den Befunden bis hierher zählten Veränderung der Zehenknochen, Vergrößerung der Foramina in Händen und Füßen, Rindenzerstörung an mindestens einem Fingerknochen, und jetzt Cribra orbitalia. Abnormal genarbte Augenhöhlen.
Ich hatte viele Punkte. Ich musste sie nur noch verbinden.
Eins war allerdings klar. Das Mädchen war krank gewesen. Aber woran hatte sie gelitten? Hatte die Krankheit sie getötet? Warum dann das eingedrückte Gesicht? Postmortale Schädigung?
Mit warmem Wasser säuberte ich die gesamte linke Augenhöhle. Dann nahm ich ein Vergrößerungsglas zur Hand.
Und kam so zur zweiten Überraschung dieses Vormittags.
Schwarze Schnörkel schlängelten sich knapp innerhalb des oberen Augenhöhlenrands über das Dach.
Ein Wurzelabdruck? Eine Beschriftung?
Ich eilte zum Mikroskop und legte den Schädel mit dem Gesicht nach oben auf den Korkring. Den Blick auf den Monitor gerichtet, stellte ich die nötige Vergrößerung ein.
Winzige, handschriftliche Buchstaben sprangen auf den Monitor. Nach einigen Minuten und einigen Feineinstellungen konnte ich die Inschrift entziffern.
L’Île-aux-Becs-Scies.
Die Stille des leeren Gebäudes hüllte mich ein.
Hatte Jouns sein Skelett mit dem Namen der Insel beschriftet, auf der er es gefunden hatte? Archäologen taten genau das. Er hatte behauptet, in seiner Jugend einer gewesen zu sein.
Ich rannte aus meinem Labor, den Gang hinunter und in die Bibliothek des LSJML. Ich suchte mir einen Atlas und blätterte zu einer Karte von Miramichi.
Fox Island. Portage. Sheldrake. Obwohl ich den Kartenteil mit den Flüssen und der Bucht gründlich absuchte, fand ich keine Île-aux-Becs-Scies.
Hippo.
Wieder im Labor, rief ich sein Handy an. Er ging nicht dran.
Gut. Ich würde ihn später fragen. Er würde es wissen.
Ich kehrte zum Schädel auf meinem Arbeitstisch zurück und löste mit einer langen, scharfen Sonde die Erde aus der Nasenöffnung.
Und kam so zur dritten Überraschung des Vormittags.
13
Die Öffnung sah aus wie ein umgedrehtes Herz, schmal an der Spitze und sich nach unten hin in die Breite wölbend. Nichts Dornartiges ragte aus dem Grübchen an der Unterseite des Herzens heraus.
Okay. Ich hatte recht gehabt mit der breiten Nasenöffnung und dem kurzen Nasendorn.Aber der Nasenrücken war schmal, und die beiden Knochen liefen zur Mitte hin spitz zu. Und ich konnte erkennen, dass der Rand der Öffnung schwammig aussah, was auf eine Resorption des sie umgebenden Oberkiefers hindeutete.
Die Nasenarchitektur des Mädchens deutete nicht darauf hin, dass sie Indianerin oder Afrikanerin war. Eine Krankheit hatte den Dorn verkürzt und den Öffnungsumriss verändert.
Was für eine Krankheit?
Defekte an Händen, Füßen, Augenhöhlen und Nase.
Hatte ich auf dem Schädel irgendetwas übersehen?
Ich untersuchte noch einmal jeden Millimeter der Innen-und der Außenseite.
Das Schädeldach war normal. Die Basis ebenso. Was vom harten Gaumen noch übrig war, war ebenfalls intakt. Den Zwischenkiefer konnte ich nicht untersuchen, ebenso wenig wie den vorderen Teil des Oberkiefers. Das alles fehlte zusammen mit den Schneidezähnen.
Dann schaute ich mir das restliche Skelett noch einmal an, fand aber nichts Neues mehr.
Hände. Füße. Augenhöhlen. Nase. Was für eine Krankheit konnte zu einer solch verstreuten Knochenschädigung führen?
Wieder ging ich alle Möglichkeiten durch.
Syphilis? Lupus vulgaris? Thalassämie? Gaucher-Krankheit? Knochenmarksentzündung? Septische oder rheumatische Arthritis? Parasiten in der Blutbahn? Infektion durch Befallsausbreitung von der darüberliegenden Haut?
Die Diagnose würde Recherche erfordern. Und bei so vielen fehlenden oder beschädigten Knochen war ich nicht sehr optimistisch.
Ich zog eben Bulloughs
Weitere Kostenlose Bücher