Knochenarbeit: 2. Fall mit Tempe Brennan
mich, daß Sie um diese Zeit noch auf dem Campus sind.«
»Wollen Sie damit andeuten, daß Anthropologen härter arbeiten als Soziologen?«
»Überhaupt nicht«, lachte ich und setzte mich auf den schwarzen Plastikstuhl, den er mir anbot. »Red, ich brauche einfach Ihre Hilfe. Was können Sie mir über Kulte hier in der Gegend sagen?«
»Was meinen Sie mit dem Begriff ›Kult‹?«
Red Skyler lümmelte schief hinter seinem Schreibtisch. Obwohl seine Haare inzwischen grau geworden waren, verriet sein rostroter Bart immer noch den Ursprung seines Spitznamens. Er blinzelte mich hinter seiner Drahtgestellbrille hervor an.
»Randgruppen. Weltuntergangssekten. Satanische Zirkel.«
Er lächelte und forderte mich mit einer Handbewegung zum Weiterreden auf.
»Die Manson-Familie. Hare Krishna. MOVE. Der Volkstempel. Synanon. Sie wissen schon. Kulte eben.«
»Sie benutzen da ein ziemliches Reizwort. Was Sie Kult nennen, sieht ein anderer vielleicht als Religion. Oder als Familie. Oder als politische Partei.«
Plötzlich fiel mir Daisy Jeannotte wieder ein. Auch sie hatte Einwände gegen diesen Begriff erhoben, aber damit endeten die Gemeinsamkeiten. Bei dem Gespräch mit ihr hatte ich einer winzigen Frau in einem riesigen Büro gegenübergesessen. Jetzt saß ich mit einem großen Mann in einer so klitzekleinen, vollgestopften Kammer, daß ich Platzangst bekam.
»Na gut. Was ist ein Kult?«
»Kulte sind nicht nur Gruppen von Spinnern, die einem durchgeknallten Führer folgen. Zumindest nach meiner Definition sind es Organisationen mit einer Reihe gemeinsamer Merkmale.«
»Ja.« Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück.
»Ein Kult bildet sich um ein charismatisches Individuum, das etwas verspricht. Dieses Individuum behauptet, ein spezielles Wissen zu besitzen. Manchmal besteht dieses Wissen aus dem angeblichen Zugang zu uralten Geheimnissen, manchmal aus einer völlig neuen Entdeckung, die der- oder diejenige als einziger oder einzige gemacht hat. Manchmal ist es eine Mischung aus beidem. Der Führer bietet seinen Anhängern an, sie an diesem Wissen teilhaben zu lassen. Einige Führer versprechen Utopia. Oder einen Ausweg. Schließ dich mir an, folge mir. Ich treffe die Entscheidungen. Alles wird gut.«
»Was ist der Unterschied zu einem Priester oder Rabbi?«
»In einem Kult wird dieser charismatische Führer mit der Zeit zum Objekt der Anbetung, in einigen Fällen wird er sogar vergöttlicht. Und wenn das passiert, erhält der Führer eine außerordentliche Macht über seine Anhänger.«
Er nahm seine Brille ab und putzte die Gläser mit einem grünen Tuch, das er aus seiner Tasche gezogen hatte. Dann setzte er sie wieder auf und schob sich die Bügel hinter die Ohren.
»Kulte sind totalitär und autoritär. Der Führer ist über alles erhaben und gibt seine Macht nur an sehr wenige weiter. Die Moralität des Führers wird zur einzig akzeptierten Theologie. Zum einzig akzeptierten Verhalten. Und wie gesagt, mit der Zeit wird er zum Objekt der Verehrung, nicht irgendwelche höheren Wesen oder abstrakte Prinzipien.«
Ich wartete.
»Und oft gibt es auch eine Art von Doppelmoral. Die Anhänger werden dazu gedrängt, miteinander aufrichtig und liebevoll umzugehen, Außenstehende aber zu meiden und zu täuschen. Die etablierten Religionen bieten eher einen Verhaltenskodex an, der für alle gilt.«
»Wie erreicht ein Führer eine solche Macht?«
»Das ist ein weiterer wichtiger Faktor. Gedankenreform. Kultführer benutzen eine Reihe psychologischer Prozesse, um ihre Anhänger zu manipulieren. Einige sind noch relativ gutartig, andere aber beuten den Idealismus ihrer Anhänger richtiggehend aus.«
Wieder wartete ich, daß er fortfuhr.
»Meiner Ansicht nach gibt es im wesentlichen zwei Arten von Kulten, die beide Gedankenreform benutzen. Die kommerziell orientierten ›Bewußtseinsprogramme‹«, er deutete mit den Fingern Anführungszeichen an, »benutzen sehr intensive Überredungstechniken. Diese Gruppen binden ihre Anhänger an sich, indem sie sie dazu bringen, immer neue Kurse zu belegen und zu bezahlen. Dann gibt es Kulte, die ihre Anhänger fürs ganze Leben rekrutieren. Diese Gruppen benutzen komplexe psychologische und soziale Überredungsstrategien, um eine extreme Veränderung der Lebenshaltung herbeizuführen. Als Folge davon erhalten sie eine enorme Kontrolle über das Leben ihrer Anhänger. Sie sind manipulativ, betrügerisch und in hohem Maß ausbeuterisch.«
»Und wie funktioniert die
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