Knochenarbeit: 2. Fall mit Tempe Brennan
ihn.«
Kathryns Antworten hatten mit meinen Fragen nichts zu tun. Offenbar wiederholte sie ein Selbstgespräch, das sie schon oft geführt hatte. Nur tat sie es diesmal in meiner Küche.
»Natürlich lieben Sie ihn.«
»Ich will nicht, daß mein Baby stirbt.« Mit zitternden Fingern streichelte sie die Fransen des Deckchens. Mit denselben Bewegungen hatte sie Carlie über den Kopf gestrichen.
»Ist Carlie krank?« fragte ich besorgt.
»Nein. Er ist völlig gesund.« Die Worte waren fast unhörbar. Eine Träne tropfte auf das Deckchen.
Als ich den kleinen dunklen Fleck anstarrte, stieg ein Gefühl völliger Hilflosigkeit in mir auf.
»Kathryn, ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen kann. Sie müssen mir sagen, was los ist.«
Das Telefon klingelte, aber ich ignorierte es. Aus dem anderen Zimmer hörte ich ein Klicken, dann meine Botschaft und schließlich ein Piepen, gefolgt von einer blechernen Stimme. Dann noch ein Klicken und wieder Stille.
Kathryn rührte sich nicht. Sie wirkte wie gelähmt von den Gedanken, die sie quälten. Durch das Schweigen hindurch spürte ich ihren Schmerz und wartete.
Sieben Punkte sprenkelten das blaue Leinen. Zehn. Dreizehn.
Nach einer Ewigkeit, wie es mir vorkam, hob Kathryn schließlich den Kopf. Sie wischte sich über die Wangen, strich die Haare zurück, verschränkte dann die Finger und legte die Hände genau in die Mitte des Deckchens. Sie räusperte sich zweimal.
»Ich weiß nicht, was es bedeutet, ein normales Leben zu fuhren.« Sie verzog das Gesicht zu einem verächtlichen Lächeln, eine Verachtung, die ihr selbst galt. »Bis vor kurzem wußte ich nicht einmal, daß meins nicht normal ist.«
Sie senkte den Blick.
»Ich schätze, es hatte damit zu tun, daß ich Carlie bekam. Vor seiner Geburt habe ich nie an irgendwas gezweifelt. Es kam mir nie in den Sinn, Fragen zu stellen. Ich wurde zu Hause unterrichtet, und was ich weiß…«, wieder dieses Lächeln, »was ich von der Welt weiß, ist sehr begrenzt.« Sie überlegte kurz. »Was ich von der Welt weiß, ist das, was sie mich wissen lassen wollten.«
»Sie?«
Sie hielt ihre Hände so fest verklammert, daß die Knöchel weiß hervortraten.
»Wir dürfen nicht mit anderen über Gruppenangelegenheiten reden.« Sie schluckte. »Sie sind meine Familie. Sie sind meine Welt, seit ich acht Jahre alt bin. Er ist mein Vater und Ratgeber und Lehrer und –«
»Dom Owens?«
Ihr Blick huschte zu meinem Gesicht. »Er ist ein brillanter Mann. Er weiß alles über Gesundheit und Fortpflanzung und Umweltverschmutzung und wie man die spirituellen und biologischen und kosmischen Kräfte im Gleichgewicht hält. Er sieht und begreift Dinge, von denen wir anderen keine Ahnung haben. Es geht nicht um Dom. Ich vertraue Dom. Er würde Carlie nie etwas tun. Was er tut, tut er nur, um uns zu beschützen. Er wacht über uns. Ich bin mir nur nicht sicher –«
Sie schloß die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Ein Äderchen pochte an ihrem Hals. Ihr Kehlkopf hob und senkte sich, dann atmete sie tief durch, senkte den Kopf wieder und sah mir in die Augen.
»Dieses Mädchen. Das Sie gesucht haben. Sie war bei uns.«
Ich mußte mich anstrengen, um sie zu verstehen.
»Heidi Schneider?«
»Ich kannte ihren Nachnamen nicht.«
»Erzählen Sie mir, was Sie über sie wissen.«
»Heidi ist irgendwo anders zu der Gruppe gestoßen. Ich glaube, in Texas. Auf St. Helena war sie zwei Jahre. Sie war älter als ich, aber ich mochte sie. Sie war immer bereit, mit mir zu reden oder mir weiterzuhelfen. Sie war lustig.« Kathryn hielt inne. »Heidi sollte sich mit Jason fortpflanzen –«
»Was?« Ich dachte, ich hätte mich verhört.
»Ihr Fortpflanzungspartner war Jason. Aber sie war verliebt in Brian, den Jungen, mit dem sie zusammen war, als sie beitrat. Er ist derjenige auf Ihrem Foto.«
»Brian Gilbert.« Mein Mund war trocken.
»Auf jeden Fall haben sie und Brian sich immer heimlich davongeschlichen.« Ihr Blick wanderte zu einem Punkt irgendwo in der Ferne. »Als Heidi schwanger wurde, bekam sie eine schreckliche Angst, weil das Baby nicht geweiht sein würde. Sie versuchte, es zu vertuschen, aber schließlich fanden sie es heraus.«
»Owens?«
Sie schaute mich wieder an, und jetzt sah ich echte Angst in ihren Augen.
»Es ist egal. Sie gilt für jeden.«
»Was?«
»Die neue Ordnung.« Sie strich mit den Handflächen über das Deckchen und faltete die Hände dann wieder. »Sachen, über die ich nicht reden kann. Soll ich von Heidi
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