Knochenarbeit: 2. Fall mit Tempe Brennan
über ihr Ziel herausgefunden? Ihr irdisches Ziel, meine ich.«
»Nur daß sie ihren Schutzengel treffen und den Übertritt in eine bessere Welt machen wollen. Das ist die Art von Schwachsinn, mit der wir es zu tun haben. Aber sie sind gut organisiert. Anscheinend war die Reise von langer Hand vorbereitet.«
»Jeannotte. Sie müssen Jeannotte finden! Sie ist es! Sie ist der Schutzengel.«
Ich wußte, daß ich klang, als wäre ich übergeschappt, aber ich konnte nicht anders.
»Okay. Einverstanden. Jetzt ist Schluß mit lustig. Wann ist sie von Ihnen weg?«
»Vor fünfzehn Minuten.«
»Wohin wollte Sie?«
»Weiß ich nicht. Sie sagte, daß sie erwartet wird.«
»Okay, ich finde sie. Brennan, wenn Sie recht haben, dann ist diese kleine Professorin eine sehr gefährliche Frau. Unternehmen Sie nichts, ich wiederhole, unternehmen Sie nichts auf eigene Faust. Ich weiß, daß Sie sich Sorgen um Harry machen, aber wenn sie in diese Sache verwickelt ist, sind Profis vonnöten, um sie da rauszuholen. Haben Sie verstanden?«
Seine bevormundende Art war meiner Stimmung nicht gerade förderlich.
»Darf ich mir die Zähne putzen? Oder ist das schon zu gefährlich?« blaffte ich.
»Sie wissen, was ich meine. Richten Sie sich ein paar Kerzen her. Ich rufe Sie wieder an, sobald ich was Neues weiß.«
Ich legte auf, ging zur Terrassentür und zog die Vorhänge auf. Der Hinterhof sah aus wie ein Zaubergarten, Bäume und Sträucher waren wie aus gesponnenem Glas. Eisige Gespinste hingen von Balkonen, Backsteinkaminen und -mauern.
Ich suchte mir Kerzen, Streichhölzer und eine Taschenlampe zusammen, holte dann mein Batterieradio und die Kopfhörer aus meiner Sporttasche und legte alles auf die Küchenanrichte. Dann setzte ich mich im Wohnzimmer auf die Couch und schaltete die CTV-Nachrichten ein.
Der Sturm war die Hauptnachricht. Überall in der Provinz waren Stromleitungen unterbrochen, und HydroQuebec konnte nicht sagen, wann die Schäden behoben sein würden. Die Temperatur fiel stetig, und weitere Niederschläge standen bevor.
Ich zog eine Jacke über und ging dreimal hinaus, um mir einen Holzvorrat ins Haus zu holen. Wenn der Strom ausfiel, würde ich es wenigstens warm haben. Als nächstes holte ich zusätzliche Decken und legte sie aufs Bett. Als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, zählte der Nachrichtensprecher gerade mit ernster Miene Veranstaltungen auf, die nicht stattfinden konnten.
Es war ein vertrautes Ritual, und merkwürdig tröstend. Wenn im Süden Schnee droht, werden Schulen geschlossen, öffentliche Aktivitäten werden eingestellt, und hektische Hausbesitzer räumen Supermarktregale leer. Meistens kommen die Blizzards dann gar nicht, oder wenn wirklich Schnee fällt, ist er am nächsten Tag wieder verschwunden. In Montreal sind die Vorbereitungen auf ein Unwetter methodisch, nicht hektisch, und bestimmt von der Haltung »Wir schaffen das schon«.
Meine Vorbereitungen beschäftigten mich fünfzehn Minuten. Der Fernseher fesselte meine Aufmerksamkeit für weitere zehn. Als ich ihn ausschaltete, kehrte meine Erregung in voller Stärke zurück.
Ich kam mir vor wie festgenagelt, ein Käfer auf der Nadel. Ich konnte nichts tun, und meine Machtlosigkeit machte mich um so rastloser.
Ich absolvierte meine allabendliche Routine und hoffte, damit die schlimmen Gedanken noch ein wenig länger in Schach zu halten. Doch es half nichts. Als ich ins Bett ging, war ich mit den Nerven am Ende, alles drehte sich im Kreis.
Harry. Warum hatte ich ihr nur nicht besser zugehört? Wie hatte ich nur so egozentrisch sein können? Wohin war sie verschwunden? Warum hatte sie ihren Sohn nicht angerufen? Warum hatte sie mich nicht angerufen?
Daisy Jeannotte. Wer hatte auf sie gewartet? Was für einen verrückten Kurs steckte sie ab? Wie viele unschuldige Seelen wollten diese Leute mit sich nehmen?
Heidi Schneider. Wer hatte sich von Heidis Babys so bedroht gefühlt, daß er in dieser brutalen Kindstötung den einzigen Ausweg sah? Waren diese Morde nur Vorboten weiteren Blutvergießens?
Jennifer Cannon. Amalie Provencher. Carole Comptois. Waren diese Morde Teil des Wahnsinns? Welchen dämonischen Sittenkodex hatten sie verletzt? Waren ihre Tode die Choreographie eines höllischen Rituals? Hatte meine Schwester dasselbe Schicksal erlitten?
Als das Telefon klingelte, erschrak ich und stieß die Taschenlampe zu Boden.
Ryan, flehte ich. Es ist Ryan, und er hat Jeannotte.
Die Stimme meines Neffen kam durch die Leitung.
»O
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