Knochenarbeit: 2. Fall mit Tempe Brennan
eine Vielzahl von Stichwunden in Brust und Unterleib. Wollen Sie die Polaroids sehen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Gibt es Abwehrverletzungen?« Ich dachte an mein eigenes Abenteuer von vergangener Nacht.
»Nein.«
»Wann starb sie?«
»Wahrscheinlich gestern am späten Nachmittag.«
Alle Details wollte ich gar nicht wissen.
»Noch eins.«
LaManches Blick war voller Trauer. »Sie war im vierten Monat schwanger.«
Ich ging schnell an ihnen vorbei und in mein Büro. Wie lange ich dort saß und den Blick über die vertrauten Gegenstände schweifen ließ, ohne etwas zu sehen, weiß ich nicht mehr. Obwohl ich eine gewisse, in Jahren des Umgangs mit Grausamkeit und Gewalt erworbene emotionale Abgehärtetheit besitze, gingen mir einige Fälle immer noch an die Nieren. Die Häufung des Grauens der letzten Tage erschien mir schlimmer als fast alles, woran ich mich erinnern konnte. Oder war ich einfach so überlastet, daß ich keine weiteren Abscheulichkeiten mehr ertragen konnte?
Carole Comptois war nicht mein Fall, ich hatte sie noch nie gesehen, aber ich konnte die Schreckensbilder nicht unter Kontrolle bringen, die aus der Tiefe meines Bewußtseins an die Oberfläche drängten. Ich sah sie in ihren letzten Augenblicken, das Gesicht verzerrt vor Schmerz und Entsetzen. Spürte, wie die kochende Flüssigkeit sich auf ihrer Haut ausbreitete. War sie wenigstens ohnmächtig geworden? Wehrte sie sich gegen die Hunde, die ihr das Fleisch vom Leib rissen? Bettelte sie um ihr Leben? Um das ihres ungeborenen Babys? Welche Ungeheuer bevölkerten diese Welt?
»Verdammte Scheiße!« rief ich ins leere Büro.
Ich steckte meine Unterlagen in die Aktentasche, schnappte mir meine Sachen und schlug die Tür hinter mir zu. LaManche sagte etwas, als ich an seinem Büro vorbeiging, aber ich blieb nicht stehen.
Die Sechs-Uhr-Nachrichten fingen eben an, als ich unter der Jacques-Cartier-Brücke durchfuhr, und der Comptois-Fall war der Aufmacher. Ich schaltete aus und wiederholte meinen letzten Gedanken.
»Verdammte Scheiße!«
Als ich nach Hause kam, hatte meine Wut sich wieder abgekühlt. Einige Gefühle sind zu intensiv, um lange anzuhalten. Ich rief Schwester Julienne an und beruhigte sie wegen Anna. Claudel hatte sie bereits informiert, aber ich wollte es ihr noch persönlich mitteilen. Sie taucht schon wieder auf, sagte ich. Ja, pflichtete sie mir bei. Aber beide glaubten wir nicht mehr so ganz daran.
Ich berichtete ihr, daß Élisabeths Skelett verpackt und transportbereit sei, auch der Bericht sei fertig. Sie versprach mir, die Knochen würden gleich am Montag morgen abgeholt.
»Vielen herzlichen Dank, Dr. Brennan. Wir sind schon sehr gespannt auf Ihren Bericht.«
Was ich sonst noch herausgefunden hatte, verschwieg ich ihr, denn ich hatte keine Ahnung, wie die Schwestern auf meine Ergebnisse reagieren würden.
Während ich das Abendessen vorbereitete, schob ich jeden Gedanken an Carole Comptois’ Schicksal beiseite. Harry kam gegen halb acht, und beim Essen redeten wir über kaum mehr als über die Pasta mit Zucchini. Sie wirkte müde und abgelenkt und schien meine Ausrede des Ausrutschers auf Eis zu akzeptieren, und ich war völlig erschöpft von den Ereignissen des Tages. Weder fragte ich sie nach der vergangenen Nacht oder nach dem Seminar, noch erzählte sie von sich aus etwas. Ich glaube, wir waren beide froh, nicht zuhören oder reagieren zu müssen.
Nach dem Essen las Harry ihre Workshop-Unterlagen, und ich machte mich noch einmal an die Tagebücher. Das Kopieren hatte die Schriftqualität nicht gerade verbessert, und ich fand die Lektüre so entmutigend wie am Freitag. Außerdem war Louis-Philippe kein sehr aufregender Chronist. Als junger Arzt schrieb er lange Berichte über seine Tage im Hôtel-Dieu-Krankenhaus. Dagegen fand ich über vierzig Seiten hinweg kaum einen Hinweis auf seine Nichte. Er war anscheinend besorgt über Eugénies Pläne, nach ihrer Heirat mit Alain Nicolet weiter in der Öffentlichkeit zu singen. Außerdem mochte er ihren Friseur nicht. Summa summarum klang Louis-Philippe wie ein richtiger Spießer.
Am Sonntag war Harry schon wieder verschwunden, als ich aufstand. Ich wusch meine Wäsche, trainierte im Fitneß-Studio und überarbeitete eine Vorlesung über die Evolution des Menschen, die ich am Dienstag halten wollte. Am späten Nachmittag hatte ich endlich das Gefühl, alles Wichtige erledigt zu haben. Ich zündete ein Feuer an, machte mir eine Tasse Earl Grey und kuschelte mich
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