Knochenarbeit: 2. Fall mit Tempe Brennan
zu Freunden auf Hilton Head Island.
Als ich mich zurücklehnte, um mir zu überlegen, was ich tun sollte, fiel mein Blick auf den Monitor mit dem unfertigen Vortrag. Katy und ich könnten übers Wochenende nach Beaufort fahren, und ich könnte dort daran arbeiten. Dann würde sie nach Hilton Head weiterfahren, und ich würde bleiben und Ryan helfen. LaManche wäre zufrieden. Ryan wäre zufrieden. Und natürlich konnte ich das zusätzliche Einkommen gut gebrauchen.
Aber ich hatte auch gute Gründe, nicht zu fahren.
Seit Ryans Anruf hatte ich immer wieder ein Bild Malachys vor Augen. Ich sah seine halb geöffneten Augen, seine verwüstete Brust, seine winzigen, im Tod verkrampften Finger. Ich dachte an seinen toten Zwillingsbruder und seine toten Eltern und seine trauernden Großeltern. Das Nachdenken über diesen Fall stürzte mich in Melancholie, und gerade der wollte ich eine Weile entkommen.
Als nächstes nahm ich mir meinen Lehrplan für die kommende Woche vor. Für den Kurs in menschlicher Evolution hatte ich für Donnerstag einen Film geplant. Den konnte ich vorverlegen. Don Johanson würde am Dienstag nicht weniger erhellend sein.
Ein Knochenquiz im Osteologie-Kurs, danach offenes Labor. Ein kurzer Anruf. Kein Problem. Alex würde übernehmen, wenn ich alles für sie vorbereitete.
Ich schlug meinen Terminkalender auf. Keine Ausschußsitzungen mehr in diesem Monat. Und nach dem morgigen Tag keine Studententermine mehr bis Ende nächster Woche. Wie auch: Ich war mir ziemlich sicher, daß ich gestern jeden Studenten an der Universität gesehen hatte.
Es könnte funktionieren.
Und tief drinnen spürte ich, daß ich die Pflicht hatte zu helfen, wenn ich helfen konnte. Wie klein mein Beitrag auch sein mochte. Ich konnte keine Farbe mehr auf Malachys Wangen zurückzaubern, konnte auch die schreckliche Wunde in seiner Brust nicht schließen. Ich konnte den Schmerz der alten Schneiders nicht tilgen, konnte ihnen ihr Kind und ihre Enkelkinder nicht zurückgeben. Aber vielleicht konnte ich dazu beitragen, den Psychopathen zu fangen, der sie getötet hatte. Und vielleicht konnte ich einen künftigen Malachy retten.
Wenn du das vorhast, Brennan, dann denk nicht lang drüber nach, sondern mach.
Ich rief Ryan an und sagte ihm, daß ich ihm Montag und Dienstag zur Verfügung stünde. Ich würde ihm noch Bescheid sagen, wo er mich finden konnte.
Es gab noch etwas, das ich unbedingt tun wollte, und deshalb erledigte ich erst noch einen anderen Anruf, bevor ich Katys Nummer wählte. Ich erklärte ihr, was ich vorhatte, und sie war vollauf begeistert. Sie würde mich am Freitag zu Hause abholen, und wir würden in meinem Auto hinfahren.
»Geh jetzt sofort in die Ambulanz und laß einen TB-Test machen«, sagte ich ihr. »Subdermal, nicht nur den Kratzer. Und laß den Befund ablesen, bevor du am Freitag losfährst.«
»Warum?«
»Weil ich eine tolle Idee für dein Projekt habe, und dafür ist das Voraussetzung. Und wenn du schon in der Ambulanz bist, laß dir eine Kopie deiner Impfunterlagen geben.«
»Warum denn das?«
»Eine Aufstellung deiner sämtlichen Impfungen. Du mußtest das bei deiner Immatrikulation angeben.«
»Warum?«
»Du wirst schon sehen.«
15
Den Donnerstag verbrachte ich mit Unterrichten und Studentenberatung. Nach dem Abendessen rief ich Pete an und bat ihn, übers Wochenende nach Birdie zu sehen. Harry rief an und erzählte, daß das Seminar zu Ende sei. Sie sei ausgewählt worden, sich persönlich mit dem Professor zu treffen, und werde am Freitag bei ihm zu Hause zu Abend essen. Sie wollte noch übers Wochenende in meiner Wohnung bleiben.
Ich sagte ihr, sie könne bleiben, so lange sie wolle. Ich fragte sie nicht, wo sie die ganze Woche gewesen war oder warum sie nicht angerufen hatte. Ich hatte es ein paarmal probiert, aber nie eine Antwort erhalten, zweimal sogar nach Mitternacht. Aber ich sagte auch das nicht.
»Und du triffst dich nächste Woche mit Ryan im Land der Baumwolle?« fragte sie.
»Sieht so aus.« Ich spürte, wie meine Backenzähne sich wieder aufeinanderpreßten. Woher wußte sie das?
»Dürfte amüsant werden.«
»Es ist rein beruflich, Harry.«
»Ja, richtig. Trotzdem ist er süß, so ein richtiger Knuddelbär.«
»Seine Vorfahren hat man noch zum Trüffelsuchen abgerichtet.«
»Was?«
»Egal.«
Am Freitag vormittag suchte ich Knochenfragmente aus, schrieb Fragen auf Kärtchen und arrangierte die Versuchsanordnung auf Schälchen. Alex würde Knochenstücke und
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