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Knochenbrecher (German Edition)

Knochenbrecher (German Edition)

Titel: Knochenbrecher (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Flessner
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langen Haaren verfingen, bevor er am Geländer Halt fand. Eine schmale Treppe, vielleicht zu schmal und zu steil für die Norm, doch das war nicht sein Ressort, die Gewerbeaufsicht hatte entschieden. Er brauchte nur das Zimmer zu suchen. Eine weiße Plastiktür mit aufgeklebter Nummer aus dem Baumarkt. Schwarze Druckfarbe auf Aluminium. Greven klopfte. Erst nach dem zweiten Versuch wurde die Tür geöffnet. Vor ihm stand ein hagerer, drahtiger Mann mit einem Dreitagebart, der mindestens eine Woche alt war. Sein dichtes Haar war kurzgeschoren und fast weiß, seine Wangen hohl, seine Schultern schmal wie die von Charlie Chaplin, mit dessen Vagabundenfigur er die nicht mehr ganz neuwertige Kleidung teilte. Der Vater von Klaus Bogena war in diesem Gesicht nicht oder nicht mehr zu erkennen. Mit fahrigem Blick ließ er Greven auf das Zimmer, das immer noch so aussah wie die Zimmer, die er seit Jahren kannte, denn Siegfried Jührns war nicht der erste Kunde, den Greven hier aufsuchte. Immerhin musste der ausgemergelte Mann für einige Zeit die Fenster geöffnet haben, denn die Luft war nicht so muffig, wie Greven sie in Erinnerung hatte. Der typische Geruch nach alter Wäsche, alten Tapeten und alten Teppichen fehlte. Greven setzte sich auf den einzigen Stuhl, Jührns auf die Bettkante.
    Noch bevor Greven das Gespräch eröffnen konnte, kam der müde wirkende Mann auf den Punkt, den eigentlich Greven hatte ansprechen wollen: »Ich weiß es aus der Zeitung. Ein Bekannter hat mir die Todesanzeige zugeschickt. Zur Beerdigung habe ich es nicht geschafft, aber ich wollte wenigstens einmal an ihrem Grab stehen. Immerhin waren wir mal …«
    »Das verstehe ich«, sagte Greven, »aber warum haben Sie nicht schon früher einmal …?«
    »Das verstehen Sie nicht. Oder haben Sie Almuth gekannt? Ich meine, wirklich gekannt?«
    »Nein«, musste Greven gestehen.
    »Na, sehen Sie! Almuth und ich, wir waren sehr verschieden, wir haben nur kurz …, wir haben …«
    »… in verschiedenen Welten gelebt«, schlug Greven vor.
    »Das haben wir. Genau, wie Sie sagen. Dieser ganze Aberglaube an dieses Zeug, dieses …« Jührns schüttelte den Kopf und sah Greven fragend an.
    »Und Ihr Sohn?«
    »Halten Sie mir nicht meine Fehler vor! Ich weiß, was ich hätte tun sollen, aber ich habe es nicht getan: Ich musste weg, ich wollte weg. Ich habe es nicht mehr ausgehalten. Das lag nicht nur an Almuth. Auch an mir. Lange an einem Ort, das geht bei mir nicht. Auch bei meinen Eltern habe ich es nicht lange ausgehalten. Als Klaus unterwegs war, habe ich schon gedacht: Nichts wie weg. Du musst weg. Nur raus aus Ostfriesland. Raus aus Marienhafe. Weg, bloß weg!«
    »Ich kann Ihnen folgen«, sagte Greven, »doch bei mir ist das eine andere Sache, ich …«
    »Nichts wissen Sie. Die Almuth, die hatte immer … die hatte immer noch einen auf Lager, verstehen Sie? Ich war nicht der Einzige. Haben Sie mal ein Foto von ihr gesehen? Ich meine, als sie jung war? Die waren doch alle hinter ihr her. Alle. Das hat ihr gefallen, kann ich Ihnen sagen. Gefallen hat ihr das. Egal, nun ist sie tot. Nur das Grab hab ich einmal sehen wollen. Wenigstens am Grab stehen. Immerhin war ich ja einmal …«
    »Wohin sind Sie damals … ausgewandert?«
    »Ich bin nicht weit gekommen. Zuerst wollte ich in die USA. Doch ich bin schon in London von Bord gegangen.«
    »Wo haben Sie gearbeitet?«
    »In den Docks. Die haben damals jeden genommen. Sogar krauts, ugly germans, bad nazis, falls Sie verstehen. Aber schleppen konnte ich. Schauerleute haben in allen Häfen Arbeit gefunden. Heute gibt es das ja nicht mehr. Die Container, diese verkackten Container.«
    »Dann sind Sie aus London gekommen?«
    »Nein, aus Hamburg. Vor neun, nein, vor zehn Jahren bin ich nach Hamburg gezogen.«
    »Adresse?«
    »Ist das ein Verhör? Sie sagten doch: nur ein paar Fragen?«
    »Adresse?«
    »Konsul-Hagen-Straße 55.«
     »Wo haben Sie in London gewohnt?«
    »In der Porter Road. Das ist in Chelsea. Einer dieser Hinterhöfe. Grauenhaft. Aber …«
    »Gut. Haben Sie noch vor, Ihren Sohn zu besuchen?«
    »Das hatte ich vor«, sagte Jührns, »das hatte ich wirklich vor. Aber er ist Lehrer am Gymnasium. Lehrer. Ich bin … Kistenschlepper. War Kistenschlepper. Sozikohle, verstehen Sie. Sozikohle.« Das Gesicht des Mannes versank in seinen Händen.
    »Herr Jührns …«
    »Darf ich mal aufs Klo?«
    »Na klar«, antwortete Greven, »dies ist ja kein Verhör.«
    Der alte Mann stand auf und ging zur Tür.

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