Knochenerbe
er hiergelassen und ist nie wiedergekommen, um sie zu holen. Sind Sie sicher, dass Sie nichts trinken wollen? Ich habe auch richtigen Tee.“
Marcia warf mir ein überraschendes Lächeln zu, das ich spontan erwiderte.
„Nein danke. Was wollten Sie gerade über Ihren Mieter sagen?“
„Er ist abgehauen, und seitdem hatten wir niemanden mehr. Torrance will es einfach nicht mehr, er ist in den letzten Jahren in der Beziehung seltsam geworden – und nicht nur in der Beziehung. Es muss die Midlife-Crisis sein, sage ich ihm immer wieder. Er und Jane und ihr Riesenstreit um den Baum!“
Ich blickte in die Richtung, in die Marcias rotlackierter Fingernagel wies. Fast genau auf der Grenze zwischen den Grundstücken stand ein Baum, der einen seltsam schiefen Eindruck machte. Auf jeden Fall von der Sonnenterrasse der Rideouts aus betrachtet.
„Der Baum steht nicht eindeutig auf unserem oder Ihrem Grundstück, sondern auf der Grenze“, erklärte Marcia mit ihrer tiefen, wohlklingenden Stimme. „Können Sie sich vorstellen, dass zwei halbwegs intelligente Menschen sich um einen Baum streiten?“
„Die Leute streiten um so ziemlich alles. Ich betreue ein paar Wohnungen als Hausverwalterin. Sie glauben nicht, wie manche Leute sich anstellen, wenn jemand seinen Wagen auf ihrem Parkplatz abstellt.“
„Sie irren, das kann ich mir vorstellen. Na ja, wie Sie sehen, steht der Baum ein bisschen näher an Janes Haus – an Ihrem Haus ja nun.“ Marcia nahm noch einen Schluck. „Aber Torrance hasste es, wenn der Baum die Blätter abwarf, er hasste es, Laub zusammenzufegen. Also wollte er mit Jane darüber reden, ob man den Baum nicht fällen könne. Im Grunde bietet er weder dem einen noch dem anderen Haus Schatten, er nutzt also niemandem etwas. Aber Jane bekam einen regelrechten Anfall, als sie das hörte. Es war echt heftig. Also entfernte Torrance nur die Aste, die auf unser Grundstück ragten. Ganz falsch! Am nächsten Morgen kam Jane hier reingestürmt und fauchte: "Das war kleinlich, Torrance Rideout. Ich habe mit dir ein Hühnchen zu rupfen.’ Wo das Sprichwort wohl herkommt? Wissen Sie das?“
Ich schüttelte den Kopf, fasziniert von der kleinen Geschichte und Marcias unerwartetem Schlenker.
„Natürlich ließen sich die Äste nicht wieder ankleben, Torrance hatte sie außerdem schon gehäckselt.“ Marcias Südstaatenakzent trat immer deutlicher zutage. „Irgendwie hat Torrance es geschafft, dass Jane sich beruhigte, aber zwischen den beiden war es danach nie wieder wie früher. Zwischen mir und Jane hatte sich wenig geändert. Wir sprachen immer noch miteinander und saßen zusammen im Verwaltungsrat des Waisenhauses. Ich mochte Jane.“
Jane zornig? Es fiel schwer, mir das vorzustellen. Die Jane, die ich kannte, war stets angenehm ruhig und beherrscht gewesen, manchmal sogar richtig süß. Andererseits schien sie ein ausgeprägtes Bewusstsein für den Wert von Eigentum gehabt zu haben, worin sie meiner Mutter ähnlich war. Jane hatte nicht viel besessen und offenbar auch keine großen materiellen Wünsche gehabt, aber was sie hatte, das gehörte ihr ganz und gar. Das hatte niemand berühren dürfen, ohne vorher um Erlaubnis gebeten und diese auch erhalten zu haben. Marcias Geschichte machte klar, wie weit Janes Besitzbegriff gegangen war. Jetzt, wo es zu spät war, lernte ich eine Menge über die Frau, die mich als Erbin eingesetzt hatte. Zum Beispiel hatte ich nicht gewusst, dass sie im Verwaltungsrat des Waisenhauses gesessen hatte -das eigentlich Mortimer-Haus hieß, ein nicht ganz so brutal eindeutiger Name.
„Na ja …“ Marcias Stimme wurde allmählich schleppend. „Die letzten Jahre sind die beiden eigentlich ganz gut miteinander klargekommen. Vermutlich hatte sie ihm vergeben. Wissen Sie was? Mir ist nach einem Schläfchen.“
„Es tut mir leid, dass Sie Kummer mit Jane hatten.“ Irgendwie kam es mir vor, als müsse ich mich für meine Wohltäterin entschuldigen. „Dabei war sie doch immer eine so kluge, interessante Person.“ Ich stand auf, mittlerweile sicher, dass sich Marcias Augen hinter den Brillengläsern geschlossen hatten.
„Ach, der Krach mit Torrance war noch gar nichts. Da hätten sie mal Jane und Carey erleben müssen.“
„Wann war das denn?“, erkundigte ich mich, bemüht, nicht allzu interessiert zu klingen.
Aber Marcia Rideout war eingeschlafen, das Glas Bourbon immer noch fest in der Hand.
Ich ging wieder zurück an die Arbeit. Die Sonne stand hoch am Himmel. Ich
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