Knochenerbe
Runde machen. Nicht auszudenken, aufweiche Erklärungen für Janes unerklärliches Verhalten die Leute kommen würden. Natürlich würde so oder so wild geklatscht und getratscht werden, aber jede Meinungsverschiedenheit über das Testament verlieh den Spekulationen einen hässlichen Beigeschmack.
Als ich Parnell Engle und seine schweigsame Frau so ansah, in ihren spießigen Klamotten und voller Klagen und Beschwerden, schoss mir die Frage durch den Kopf, ob ich das Geld wohl bekommen hatte, um mich für die Unannehmlichkeiten mit dem Schädel zu entlohnen. Möglicherweise hatten die Andeutungen Bubba Sewell gegenüber nur als Verschleierungstaktik gedient. Vielleicht hatte mich Jane eben doch durch und durch, fast schon übernatürlich gut, gekannt und genau gewusst, dass ich ihr Geheimnis wahren würde. „Auf Wiedersehen“, sagte ich sanft, aber bestimmt und schloss leise die Tür, damit mir niemand nachsagen konnte, ich hätte sie ihnen vor der Nase zugeschlagen. Dann schob ich den Riegel vor und ging zum Telefon. Sewell war zu meiner Überraschung in seinem Büro, als ich dort anrief, und für mich zu sprechen.
„Wie läuft’s so, Miss Teagarden?“, fragte er in seinem breiten Akzent.
„Nicht ganz glatt, Mr. Sewell.“
„Das tut mir leid. Kann ich irgendwie behilflich sein?“
„Hat Jane mir einen Brief hinterlassen?“
„Was?“
„Einen Brief, Mr. Sewell. Hat sie mir einen Brief hinterlassen, etwas, das Sie mir aushändigen sollen, wenn sich das Haus eine Weile in meinem Besitz befindet?“
„Nein.“
„Keine Kassette? Kein Tonband? Keine Aufzeichnungen?“
„Nein.“
„Haben Sie etwas in dieser Art in Ihrem Bankschließfach gesehen?“
„Nein, bestimmt nicht. Ich habe das Schließfach erst angemietet, als Jane so krank wurde. Damit sie ihren guten Schmuck dort aufbewahren konnte.“
„Sie hat Ihnen nicht gesagt, was im Haus ist?“, erkundigte ich mich vorsichtig.
„Miss Teagarden, ich habe keine Ahnung, was sich in Miss Engles Haus befindet“, sagte Sewell mit Entschiedenheit. Mit einiger Entschiedenheit, um genau zu sein.
Ich schwieg verblüfft. Bubba Sewell wollte gar nicht wissen, was sich in Janes Haus befand, und wenn ich es ihm sagte, würde er höchstwahrscheinlich etwas unternehmen müssen, und ich hatte ja noch nicht entschieden, wie ich weiter vorgehen wollte.
„Danke“, sagte ich seufzend – wieder eine Hoffnung entschwunden. „Ach ja, noch etwas …“ Ich berichtete ihm von Parnell und Leah.
„Er hat ganz bestimmt gesagt, dass er das Testament nicht anfechten will?“
„Er hat gesagt, ihm sei bewusst, dass Jane bis zum Schluss und auch bei der Abfassung ihres Testaments bei klarem Verstand war. Sie wollten nur wissen, warum sie die Entscheidung getroffen hat, alles mir zu vermachen.“
„Aber er hat nicht erwähnt, dass er vor Gericht gehen oder sich einen Rechtsbeistand nehmen will?“
„Nein.“
„Er findet, Jane sei bei klarem Bewusstsein gewesen, als sie ihr Testament aufsetzte? Hoffentlich meint er das auch so.“
Mit dieser eher positiven Note beendeten wir unser Gespräch.
Ich setzte mich wieder in meinen Ohrensessel und versuchte, den gedanklichen Faden aufzunehmen, bei dem die Engles mich unterbrochen hatten. Aber offenbar war ich mit meinen Überlegungen so weit gekommen, wie ich an diesem Tag kommen sollte, etwas Neues wollte mir nicht einfallen. Wenn ich wusste, wem der Schädel gehört hatte, würde ich eine klarere Linie verfolgen können. Wie kam ich in dieser Frage weiter? Nun ja, zuerst einmal konnte ich versuchen herauszufinden, wie lange der Schädel schon in Janes Fensterbank gelegen hatte. Auf jeden Fall hatte er sich bereits darin befunden, als der Teppich darüber verlegt wurde – falls Jane die Rechnung des Teppichverlegers aufbewahrt hatte, konnte ich dieser das Datum der Arbeit entnehmen. Seitdem hatte die Fensterbank niemand mehr angerührt.
Das bedeutete allerdings, ich musste wieder in Janes Haus zurückkehren.
Ich stieß einen tiefen Seufzer aus.
Erst einmal wollte ich etwas essen. Am Nachmittag würde ich mich dann auf Kartonsuche begeben und mich im Haus an die Arbeit machen, wie ich es ursprünglich geplant hatte.
Wie schnell sich doch alles ändern konnte: Einen Tag zuvor war ich um die Mittagszeit herum eine glückliche Frau gewesen, der unversehens ein kleines Vermögen in den Schoß gefallen war. Jetzt war ich eine Frau mit Geheimnis. Mit einem so skurrilen, makaberen Geheimnis, dass ich das Gefühl hatte,
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