Knochenerbe
Atlanta war: Die Auswahl dort war einfach zu groß, die Verkäuferinnen waren zu aggressiv gestylt. Aber vielleicht hatte mich mein Umgang mit Marcia bereits abgehärtet: Ich hatte das Gefühl, sogar den Frauen am Kosmetiktresen gegenübertreten zu können, ohne mit der Wimper zu zucken.
Ehe ich den Laden betrat, zog ich meinen Rock gerade, nahm die Schultern zurück und rief mir ins Gedächtnis, dass ich alles kaufen konnte, wonach es mich gelüstete. Dann marschierte ich in meinem hoffnungslosen Bibliothekarinnenoutfit durch die Tür, hinter der ich sofort mit einer kurvenreichen Erscheinung im hellen Blümchenkleid und dezentem Make-up zusammenstieß, an der besonders die perfekten Nägel auffielen. „Hallo, Nachbarin!“, begrüßte mich die Erscheinung, bei der es sich um Carey in Arbeitskluft handelte. Jetzt verstand ich, warum sie daheim weite Kleider und abgetretene Schuhe bevorzugte: Sie sah wunderbar aus, fast schon zum Anbeißen, aber sicher nicht so, als trüge sie etwas Bequemes. „Ich freue mich, Sie zu sehen“, fuhr sie mit einem warmen Lächeln fort, während ich noch damit beschäftigt war, ihr Erscheinungsbild zu dekodieren.
„Ich freue mich auch“, brachte ich endlich über die Lippen.
„Womit kann ich Ihnen denn helfen?“
„Ich brauche etwas zum Anziehen für heute Abend.“
„Die Party auf dem Sonnendeck!“
„Genau. Ich finde es nett, dass die Rideouts dazu einladen.“
„Ach, Marcia tut nichts lieber, als Partys auszurichten. Gäste sind ihr ein und alles.“
„Sie hat mir anvertraut, dass es ihr überhaupt nicht gefällt, allein zu sein, wenn ihr Mann anderswo übernachten muss.“
„Nein, das mag sie nicht. Sie trinkt dann ein bisschen, aber das haben Sie höchstwahrscheinlich längst mitbekommen. Das macht sie schon, seit ich sie kenne … Wobei ich nicht behaupten will, dass ich sie allzu gut kenne! Marcia ist mit vielen in der Stadt bekannt, scheint sich aber mit niemandem richtig anzufreunden. Dachten Sie an etwas Sportliches oder eher an ein Sommerkleidchen?“
„Bitte?“
„Für die Feier.“
„Entschuldigung, ich war einen Moment lang in Gedanken nicht ganz hier. Mal sehen … was ziehen Sie denn an?“
„Ich bin zu dick für ein luftiges Sommerkleid“, verkündete Carey frohgemut. „Aber Ihnen würde so etwas prima stehen, und es wäre auch nicht zu festlich. Sie könnten flache Schuhe tragen und sich beim Schmuck auf etwas ganz Schlichtes beschränken.“
Voller Zweifel musterte ich das Kleid, das Carey vom Ständer genommen hatte. Mrs. Day hätte mir so etwas nie vorgeschlagen – aber Mrs. Day führte solche Kleider auch nur selten. Das Kleid war weiß und orange, sehr hübsch, aber zugleich auch leger, und es hatte kein Rückenteil.
„Einen BH kann man dazu nicht tragen“, stellte ich fest.
„Natürlich nicht!“ Carey schien nichts dabei zu finden.
„Bei mir wackelt es dann aber“, gab ich zu bedenken.
„Probieren Sie es an.“ Carey zwinkerte. „Wenn es Ihnen nicht gefällt, haben wir jede Menge schöner Kombinationen aus Shorts und T-Shirt oder Bluse da, auch leichte Sommerhosen, was alles für heute Abend passend wäre. Aber tun Sie mir den Gefallen, probieren Sie das Kleid einfach mal an.“
Noch nie hatte ich mich ganz ausziehen müssen, um ein Kleidungsstück anzuprobieren. Ich streifte das Kleid über und hüpfte auf den Fußballen auf und ab, um im Spiegel zu beobachten, wie sehr es wackelte. Für eine Person meiner Größe habe ich einen recht großen Busen, meiner Meinung nach wackelte er so, dass es mich in der Öffentlichkeit verunsichern würde.
„Wie sieht es aus?“, rief Carey, die vor der Umkleidekabine wartete.
„Ich weiß nicht“, entgegnete ich, nachdem ich noch einmal gehopst war. „Ich gehe schließlich mit einem Priester.“
„Der ist auch nur ein Mensch“, bemerkte Carey trocken, „und Gott erschuf auch Busen.“
„Stimmt.“ Ich drehte mich um und inspizierte meinen Rücken: Er wirkte sehr nackt. „Ich glaube, das schaffe ich nicht, Carey“, rief ich.
„Kommen Sie, zeigen Sie sich.“
Widerwillig öffnete ich die Tür der Umkleidekabine.
„Wow!“ Carey fixierte mich mit zusammengekniffenen Augen. „Sehr sexy!“, flüsterte sie verschwörerisch.
„Ich fühle mich einfach zu offenherzig. Mein Rücken ist ganz kalt.“
„Ihm würde es prima gefallen.“
„Da bin ich nicht so sicher.“
Immer noch zweifelnd musterte ich mich im Riesenspiegel am Ende des Ganges mit den Umkleidekabinen.
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