Knochenerbe
ich warten wollen, bis Sie Lillian umbringen.“
Es dauerte eine Weile, bis ich das Unfassbare verarbeitet hatte: Sam Clerrick hatte einen Witz gemacht. Ich fing an zu lachen, Clerrick fing an zu lachen, und plötzlich sah er doch glatt aus wie ein menschliches Wesen.
„Es war mir ein Vergnügen!“, sagte ich, und es war zum ersten Mal in unserer Bekanntschaft ernst gemeint. Dann drehte ich mich um und verließ das Zimmer.
„Ihre Versicherung läuft noch dreißig Tage weiter!“, rief er mir hinterher, eine Bemerkung, die schon eher nach dem alten Sam Clerrick klang.
Wie es das Glück wollte, war an diesem Morgen in der Bibliothek extrem wenig los. Ich versteckte mich zwischen den Regalen, las Beschriftungen und staubte ein wenig ab, denn ich wollte den anderen das mit meiner Kündigung erst am Ende der Schicht verraten, wenn ich ging. Eine Mittagspause stand mir bei nur fünf Stunden Arbeit nicht zu, an solchen Tagen erwartete Clerrick von uns, dass wir uns zu Hause Brote schmierten oder eine Kollegin baten, uns in ihrer Mittagspause etwas aus dem Schnellimbiss mitzubringen, das wir dann hastig zwischen Tür und Angel verzehren mussten. Dafür hätte ich allerdings den Pausenraum betreten müssen, wo sich eigentlich immer jemand aufhielt. Mit den Kollegen zu klönen, ohne etwas von meiner Kündigung durchblicken zu lassen, wäre mir wie Betrug vorgekommen. Also ging ich allen so gut wie möglich aus dem Weg, sah zu, dass ich nicht weiter auffiel und war gegen vierzehn Uhr ziemlich hungrig. Dann musste ich noch die Verabschiedungsrituale über mich ergehen lassen, allen versichern, wie gern ich mit ihnen zusammengearbeitet hatte und dass wir uns noch oft sehen würden, weil ich der Bibliothek ja weiterhin als Leserin erhalten blieb.
Insgesamt stimmte mich das trauriger, als ich erwartet hatte. Selbst der Abschied von Lillian war kein ungetrübtes Vergnügen, im Gegenteil: Die Zusammenarbeit mit ihr würde mir fehlen, kam ich mir in ihrer Gegenwart doch immer so tugendhaft und schlau vor. Ich beschwerte mich nicht lauthals über jede klitzekleine Änderung in der Arbeitsroutine, ich langweilte niemanden mit minutiösen Berichten über unbedeutende Ereignisse zu Tode, ich wusste, wer Benvenuto Cellini war. Das war zugegebenermaßen kein feiner Zug von mir. Immerhin hatte Lillian letztlich zu mir gehalten, als die schrecklichen Morde unsere Stadt in Unruhe versetzten und die Gerüchteküche, was mich betraf, sehr unschön brodelte.
„Dann kannst du dich ja jetzt ganztags auf die Jagd nach einem Gatten machen“, teilte mir Lillian beim Abschied mit, woraufhin ich sofort aufhörte, mich meiner Gefühle für sie zu schämen. Ein Gatte war das Einzige, was Lillian besaß und ich nicht, das Einzige, wonach mir ihrer Meinung nach aber auf jeden Fall der Sinn zu stehen hatte.
„Wir werden sehen“, sagte ich und hielt die Hände auf dem Rücken verschränkt, um die Frau nicht zu erwürgen.
Ich holte meine Handtasche aus dem Spind, gab den Schlüssel zurück und verließ die Bibliothek zum letzten Mal durch die Hintertür.
Die neugewonnene Freiheit führte mich als erstes in den Supermarkt. Ich brauchte etwas zum Mittagessen und ein paar Sachen für den Kühlschrank in der Honor Street, um mir auch dort schnell mal etwas richten zu können. Freudetrunken rauschte ich durch die Regalreihen und lud voller Wonne meinen Einkaufswagen voll. Meine Kündigung feierte ich, indem ich mir ein paar teure Mahlzeiten für die Mikrowelle zulegte, die mit den hübschen, wiederverwendbaren Tellern. Für mich der reine Luxus, zumindest für einen simplen Lunch. Vielleicht würde ich ja jetzt auch Zeit zum Kochen haben. War mir überhaupt danach? Wollte ich richtig kochen lernen? Meine Spaghetti mit Tomatensauce waren nicht zu verachten und mein Pekannusskuchen auch nicht – war es wirklich erforderlich, diese Kochkünste auszubauen? Nachdenklich schob ich daheim ein Fertiggericht in die Mikrowelle.
Wie es mit mir und der Ernährung weiterging, durfte ich in aller Ruhe entscheiden. Ich war jetzt eine Dame mit Muße, ich hatte alle Zeit der Welt.
Die Dame mit Muße beschloss, ihre Kündigung weiterhin mit der Anschaffung eines neuen Kleides für die Party der Rideouts zu feiern, und diesmal würde ich nicht zu Aminas Mutter gehen, sondern meinen Reichtum gleichmäßig unter die Leute bringen, indem ich Marcus Hatfield aufsuchte. Normalerweise machte mich dieser Laden nervös, obwohl er nur eine Filiale des Hauptgeschäftes in
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