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Knochenfinder

Knochenfinder

Titel: Knochenfinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melanie Lahmer
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zuvor. Kein bisschen Licht drang in die Höhle. Sie zitterte so stark, dass ihr Körper leicht gegen die Bretterwand schlug, neben der sie sich offenkundig immer noch befand. Stöhnend versuchte sie, sich auf die Seite zu drehen. Ihr Rücken schmerzte teuflisch, denn aufgrund ihrer Fesselung lag sie in einer unnatürlichen, extrem unbequemen Haltung auf dem steinigen Boden. Wie hatte sie nur so einschlafen können?
    Sie biss die Zähne aufeinander. Statt zu schlafen, hätte sie sich mit ihrer Rettung beschäftigen sollen. Sie brauchte dringend einen Plan, um aus der Höhle herauszukommen – natürlich zusammen mit René.
    »Hallo? René?«, flüsterte sie und wartete. Doch es kam keine Antwort. Ob er schlief?
    Sie hörte ein Rascheln. »René!«, rief sie mit leiser Stimme, aber er antwortete nicht. Stattdessen hörte sie ein leises Wimmern, wie im Schlaf.
    Wie es ihm wohl ging, auf der anderen Seite der Wand? Nach ihrem Gespräch hatte er eine ganze Zeit lang geschrien und nicht mehr auf ihre Worte reagiert. Dann hatte er gewimmert und schließlich nur noch gestöhnt und geächzt. Sie wollte nicht darüber nachdenken, was er alles erlebt haben musste, aber trotzdem gingen ihr die Fotos von den entsetzlichen Funden nicht aus dem Kopf. Vier Finger hatte er in den letzten Tagen verloren, und außer dem Täter wusste niemand, warum.
    Natascha dachte an ihre eigene Hand: an die drei Leberflecke auf der Haut zwischen Daumen und Zeigefinger. Wie gemalt, hatte ihre Mutter immer gesagt. Sie sah ihre Mutter vor sich, lächelnd, eine gestärkte Haube auf dem Kopf. Als Kind war Natascha manchmal bei ihr gewesen, wenn sie Spätdienst im Krankenhaus hatte. Die Haare der Mutter waren stets zu einem Zopf gebunden. Der Kittel hatte oft rostbraune Flecken gehabt, aber Natascha hatte sich nie getraut zu fragen, woher sie kamen. Die Hände ihrer Mutter steckten bei der Arbeit in beigefarbenen Gummihandschuhen, quietschten auf den glatten Oberflächen der Krankenhausmöbel, hielten Pflaster oder ein Skalpell ...
    Nataschas Erinnerungen endeten abrupt, als sie plötzlich bemerkte, dass ein Lichtstrahl an der Decke entlangwanderte. Er beleuchtete das grobe Gestein und enthüllte rostige Ausblutungen an den Wänden, bis er schließlich an einer Stelle verharrte. Natascha biss sich auf die Lippen. Reglos blieb sie liegen, atmete flach, als könnte sie sich damit unsichtbar machen.
    Dann wanderte der Lichtstrahl weiter und kam auf sie zu. Ihr Herz schlug schmerzhaft gegen den Rippenbogen. Auf einmal änderte das Licht die Richtung, zeigte wieder zur Decke und verharrte erneut. Es war hinter der Bretterwand, drüben auf Renés Seite. Jemand schien eine Lampe auf den Boden gestellt zu haben; zumindest hatte Natascha ein metallisches Klicken vernommen. Es raschelte erneut, und sie hörte eine Stimme murmeln, leise und dumpf. Renés Wimmern wurde lauter, schwoll zu einem Röcheln an. Natascha liefen eiskalte Schauer über den Rücken. Was passierte dort drüben? Wurde sie jetzt etwa Ohrenzeugin einer weiteren Amputation? O nein! Sie würde es nicht ertragen, hier zu liegen und Zeugin solcher Brutalität zu werden, ohne irgendetwas dagegen unternehmen zu können. Lieber würde sie noch einmal in Ohnmacht fallen, als völlig machtlos so etwas Schreckliches mitzuerleben, das nur wenige Meter von ihr entfernt hinter der Bretterwand passierte.
    Doch statt ins Vergessen abzudriften, nahm sie plötzlich alles überdeutlich wahr, als habe jemand Mikrofon und Verstärker aufgestellt. Sie hörte ein Schaben, ein Ächzen – das Knistern von Folie. Ihre Synästhesie wurde dadurch verstärkt: Die Töne hatten so grelle Farben, dass sie fast blendeten. René schluchzte nur noch heiser. Ein leises, fast tröstendes Flüstern drang zu ihr herüber.
    Es gab ein schnappendes Geräusch – einmal, zweimal. Erneut trat das Bild ihrer Mutter vor ihr inneres Auge, die in weißem Kittel und mit Gummihandschuhen ihrer Arbeit nachging. Zog da jemand Gummihandschuhe an? Sie biss die Zähne zusammen, bis das Kiefergelenk schmerzte.
    Nicht schreien, Natascha, mach ihn nicht auf dich aufmerksam! Immer wieder sagte sie sich in Gedanken diese Worte: Es war wie ein stummes Gebet.
    Wenn sie nur wüsste, was dort drüben vor sich ging! Was passierte jetzt, nachdem der Entführer seine Gummihandschuhe übergestreift hatte? Sie hoffte inständig, dass er René kein weiteres Leid zufügte, sondern nur seine Wunden versorgte.
    Natascha versuchte, die Geräusche rational zu deuten.

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