Knochenfinder
liebsten ihre Ohren zugehalten, um weder seine Worte noch sein Lachen hören zu müssen. Doch sie war gefesselt. Sie erkannte den Wahnsinn in seinen Worten. Die Erkenntnis kam mit erschreckender Deutlichkeit: Das Denken dieses Mannes folgte einer ganz eigenen Logik. Einer, zu der andere Menschen keinen Zugang hatten. Und sie war diesem Wahnsinn völlig schutzlos ausgeliefert – war dazu verdammt, seinen verrückten Ausführungen hilflos zuzuhören.
Sein Lachen hallte in der Höhle, schien sich zu vervielfachen. »Ich hatte zuerst versucht, den Finger aufrecht in die Dose zu stellen, weil das die beabsichtigte Wirkung verstärkt hätte. Leider ist mir das nicht gelungen. Der Finger fiel immer wieder um, weil er keinen Halt fand. Ich konnte ihn nur hineinlegen. Aber ich denke, dass er trotzdem seine erhoffte Aufmerksamkeit fand. Sehe ich das richtig, Frau Kommissarin?«
Natascha hatte das Gefühl, die Höhlenwände rückten näher, drückten ihren Brustkorb zusammen und pressten die wenige Luft aus ihren Lungen. Da war es wieder: dieses silbergraue, allumfassende Gefühl der Atemnot. So wie damals in dem Turm der italienischen Kirche und in der engen Telefonzelle. Sie atmete stoßweise, wollte so viel Sauerstoff wie möglich aufnehmen – und fürchtete gleichzeitig, deswegen zu hyperventilieren. Er sollte aufhören, sollte endlich seinen Mund halten und sie hier unten in Ruhe lassen. Ihre Atemluft reichte nicht, um irgendetwas zu sagen. Sie röchelte.
»Das war eine Zustimmung, nicht wahr? Ich wusste, dass Sie mich verstehen. Aber können Sie auch die Symbolik hinter dem Mittelfinger erkennen?« Er lachte. »Der Stinkefinger! Ihm wird nachgesagt, dass er ein Phallussymbol darstellt. Um den Gegner einzuschüchtern. Haben Sie das gewusst?«
Natascha schüttelte den Kopf.
Erbarmungslos redete er weiter. »Ringe sind ein Symbol für die Ewigkeit. Und wo trägt man sie für gewöhnlich? Genau, Frau Kommissarin! Sie brauchen gar nicht so verängstigt zu schauen; sicher wollten Sie mir die gleiche Antwort geben. Und meine Rätsel und mit ihnen mein Ruhm sind für die Ewigkeit gedacht. Es ist alles so einfach, nicht?«
Natascha schloss die Augen. Was kam jetzt? Wenn sie nur nicht gefesselt wäre! Wenn sie sich nur irgendwie hätte wehren können. Ihn anspucken oder beißen – das war das Einzige, was ihr einfiel. Aber was hätte sie davon? Sie würde ihn nur wütend machen und unkalkulierbare Reaktionen provozieren.
Er beugte sich vor und blickte sie bedrohlich an. »Sind Sie nun bereit für Ihren eigenen Hinweis – für Ihre individuelle Hilfestellung an Ihre Kollegen?«
Sie versuchte, sich von ihm wegzurollen. Doch gleichzeitig hatte sie Angst, dass er sie dann berühren würde. Und wenn er sie berührte, würde er seine Drohung wahrscheinlich wahrmachen. Also ließ sie ihn weiterreden und hoffte inständig, dass ein Wunder geschah. Dass ihre Kollegen gar keinen weiteren Hinweis brauchten, um sie hier zu finden.
Jetzt war er noch näher an sie herangerückt – so nah, dass sie seinen Atem riechen konnte. Der Geruch von Pfefferminzkaugummi wehte zu ihr. Plötzlich war sie sich sicher, sich niemals wieder ein Kaugummi in den Mund stecken zu können, ohne an diese Situation denken zu müssen. Falls sie dazu überhaupt noch einmal die Gelegenheit bekam ...
»Wie Sie sehen, folgt alles einem bestimmten System. Meinem System. Und bald ist meine Sammlung vollständig; dann ist mein Projekt beendet. In wenigen Stunden haben all die simplen Geschöpfe mit den GPS-Geräten verstanden, dass sie ihre schmutzigen kleinen Finger vom Geocaching lassen sollen. Es fehlt mir nur noch ein kleiner – verzeihen Sie mir bitte diesen Wortwitz – Fingerzeig.«
Er sah sie lange und nachdenklich an.
Natascha fühlte sich wie hypnotisiert. Es war ein Gefühl, als wäre alles Leben aus ihrem Körper gewichen und nur ihr Geist noch wach. Sie wünschte sich sehnlich, dass auch er sich einfach abschaltete.
»Und wissen Sie, was mich die ganze Zeit so beeindruckt hat, Frau Kommissarin?« Seine Stimme hatte einen fast liebevollen Klang bekommen. »Ihr kluger Kopf.«
Kapitel 60
Winterberg öffnete die Tür seines Büros. Während der Rückfahrt von der alten Hütte im Wald hatte er versucht, sich auf das Gespräch mit Niklas vorzubereiten. Doch jetzt erschien ihm plötzlich alles surreal: die Bilder auf Niklas’ Rechner, die Nacht hier im Büro mit seiner Wut und dem ohnmächtigen Zorn – und dann auch noch die Sorge um Natascha. An
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