Knochenfinder
man das kalorienreiche Essen mittlerweile an. Auch Winterberg war in der letzten Zeit ein wenig in die Breite gegangen, und so beschloss Natascha, ihm noch zwei Äpfel zu kaufen. Vielleicht könnte sie ihn so zu etwas Gesundem überreden.
Natascha ging auf dem Bürgersteig neben der Hauptstraße, an der die Polizeiwache, die Stadtverwaltung und das Finanzamt lagen. Wie immer zur Mittagszeit spazierten viele Leute aus den Gebäuden in Richtung der Geschäfte. An der Ampel trafen sie Bekannte und kamen mit ihnen ins Gespräch. Wenn so viele Menschen jeden Tag zur selben Zeit das Gleiche tun, entsteht zwangsläufig eine gewisse Nähe.
Natascha jedoch hielt ein wenig Abstand zu den anderen, denn sie hatte keine Lust, das übliche Geplauder mitzuhören. Die Hitze war unangenehm schwül; ein Film aus klebrigem Schweiß legte sich auf ihre Haut, kaum dass sie ein paar Meter gegangen war. Der Lärm der Stadt und der Gestank der Autoabgase, die sich hier unten im Tal ansammelten, setzten ihr ebenfalls zu; daher wollte Natascha möglichst schnell das überdachte Einkaufszentrum erreichen. Sie entschied, zunächst für sich einen Salat und einen Joghurt zu kaufen und dann für Winterberg eine der Bäckereien aufzusuchen.
Voller Sehnsucht dachte sie an die Sommer in ihrer Heimatstadt. Köln war zwar größer als Siegen, sodass dort noch mehr Auto- und Industrieabgase entstanden. Aber der Rhein brachte immer ein bisschen Wind in die Stadt, und selbst bei größter Hitze gab es in Köln viele kühle Plätze. Siegen hingegen war von Bergen eingekesselt, sodass die Luft sich wie unter einer Käseglocke staute. Das war besonders unangenehm für jemanden, der so empfängliche Sinne wie sie hatte.
»Hey, Natascha!«
Sie erkannte die Stimme hinter ihr sofort. Natascha blieb stehen, und ihre Mundwinkel gingen unwillkürlich nach oben, als sie sich umdrehte.
Simon kam mit großen Schritten auf sie zu und ließ dabei wie ein Hund, der unter zu großer Hitze leidet, die Zunge heraushängen. »Mann, ist das heiß heute! Und da soll unsereins noch in Uniform arbeiten.« Er sah an sich hinab und zupfte an der langen Hose. »Mit Shorts wäre es wesentlich angenehmer.«
Natascha lachte. »Und dann steckt ihr eure Dienstwaffen in die Socken. Wenn sich das herumspricht, habt ihr bald doppelt so viele Einsätze wie heute. Einfach nur, weil jede Frau eure Beine sehen will.«
Simon zog die Stirn in Falten und schüttelte langsam den Kopf. »Du weißt wohl nicht, wie Männerbeine aussehen. Es hat schon seinen Grund, dass in vielen Berufen kurze Hosen verboten sind. Bist du auf dem Weg in die Kantine? Ich will nämlich auch da was essen.«
»Nein.« Natascha ging weiter, und Simon folgte ihr. »Ich hole nur eben was beim Bäcker und im Supermarkt. Mir ist es für ein warmes Essen viel zu heiß. Außerdem hab ich gleich einen Termin, da bleibt mir nicht viel Zeit.«
»Och, dann komm ich doch einfach mit dir. Ein Mettwurstbrötchen reicht mir eigentlich auch. Habt ihr gerade viel zu tun?«
Er sah sie mit leuchtenden Augen an, und Natascha hatte das Gefühl, als ob es auf einmal noch heißer geworden wäre. Einen Moment vergaß sie völlig, dass er ihr eine Frage gestellt hatte.
»Wir suchen noch immer nach dem rothaarigen Jugendlichen, der am Sonntag vermisst gemeldet wurde«, antwortete sie schließlich. »Du hast das ja sicher mitbekommen. Jetzt gibt es Neuigkeiten, und Winterberg hat angedeutet, dass unser Arbeitstag recht lang werden könnte.« Sie seufzte. »Bei diesem Wetter würde ich natürlich am liebsten früh Feierabend machen und ins Freibad gehen. Ein paar Runden schwimmen, im Schatten etwas lesen und vielleicht noch ein Eis essen. Aber dafür hätte ich mir einen anderen Beruf aussuchen müssen.« Natascha lachte. »Doch wenn ich es mir recht überlege – ein gemütlicher Job wäre mir wohl auf Dauer zu langweilig.«
Mittlerweile waren sie im Einkaufszentrum angekommen. Unter der Überdachung herrschte eine angenehme Temperatur, auch wenn es hier immerhin noch fünfundzwanzig Grad warm war, wie ein Thermometer an der Wand anzeigte. Die beiden gingen in den Supermarkt, wo es richtig kühl war; und als Natascha einen Joghurt aus dem Kühlregal nahm, bildete sich eine feine Gänsehaut auf ihren Armen.
»Weißt du, wo es bei diesen Temperaturen auch angenehm kühl ist?«, sagte Simon. »Im Wald. Ich würde dir gerne mal ein paar schöne Wanderwege dort zeigen. Was denkst du – ob wir einen Termin dafür finden könnten?«
Simon
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