Knochenfinder
saß über Unterlagen gebeugt, hatte den Kopf in die Hände gestützt und bemerkte sie offensichtlich nicht. Straßenlärm drang durch das geöffnete Fenster; Musikfetzen zogen vorüber und vermischten sich mit dem Brummen von Motoren. Natascha legte zuerst einen Apfel auf die Papiere, dann den anderen; die Bäckertüte hielt sie hinter ihrem Rücken versteckt.
Winterberg sah auf; er war sichtlich irritiert. »Danke. Aber eigentlich wollte ich doch was vom Bäcker. Na ja, egal, Hauptsache, ich bekomme was zwischen die Kiemen.«
Er grinste unbeholfen und nahm einen der Äpfel. Es knackte vernehmlich, als er hineinbiss.
Als Natascha bemerkte, dass in seinem rechten Mundwinkel ein schaumiger Safttropfen hängen blieb, lachte sie und legte die Bäckertüte auf den Tisch. »Siehst du, wie einfach es ist, dich zu etwas Gesundem zu bewegen. Und nach den Äpfeln schmecken Pizzaschnecke und Nussecke noch mal so gut.«
Er lachte kurz auf. »Du bist ein kleines Biest, weißt du das?«
Natascha fletschte die Zähne und zischte: »Ja, ich weiß.«
Winterberg wurde sogleich wieder ernst. »Ich habe noch einmal über unseren Besuch bei den Staudts nachgedacht. Da waren viele Dinge, die mir komisch vorkommen, die ich aber nicht richtig einordnen kann. Hast du die seltsamen Blicke zwischen den Eltern bemerkt? Was steckt dahinter? Und warum hat René am Freitag unentschuldigt gefehlt? Warum hat der Vater ihn gestern krankgemeldet, ohne auch nur anzudeuten, dass er vermisst wird? In ihrem Verhalten kann ich beim besten Willen weder Besorgnis noch Fürsorge erkennen.«
Er nahm die Pizzaschnecke aus der Tüte, biss hinein und zeigte auf den Besucherstuhl. Natascha setzte sich und packte ihr Essen aus, dann ließ sie sich von ihrem Kollegen Besteck geben und stürzte sich hungrig auf den Joghurt.
»Ich habe schon alle möglichen Reaktionen von Eltern erlebt, deren Kind vermisst wurde«, fuhr Winterberg fort. »Wir wurden oft beschimpft, wenn unsere Suche erfolglos blieb; oder man hat versucht, uns ins Handwerk zu pfuschen und eigenmächtige Aktionen zu starten; einige haben sogar mit Anwälten und der Presse gedroht. Die meisten Eltern sind jedoch vor Kummer wie gelähmt gewesen und haben sich zu Tode gesorgt; sie haben keinen klaren Gedanken fassen können und sind daher nicht immer eine Hilfe gewesen.« Er biss erneut von der Pizzaschnecke ab und verzog den Mund. »Renés Mutter schien mir wirklich in Sorge zu sein, doch sie wirkte auch irgendwie verschüchtert – als ob sie sich nicht trauen würde, mit der ganzen Wahrheit herauszurücken. Doch ihr Mann verhält sich viel zu abgeklärt für einen Vater, der sich aufrichtig um seinen vermissten Sohn sorgt. Mir kommt es so vor, dass er sich mehr darum sorgt, seine Frau könnte etwas Falsches sagen. Vielleicht weiß sie ja etwas, das wir nicht wissen sollen.«
Natascha kratzte mit dem Löffel den Joghurtbecher aus und stellte ihn auf Winterbergs Schreibtisch. »Gut möglich. Aber was könnte das sein?«
»Stellen wir uns einmal vor, der Vater hätte etwas mit dem Verschwinden seines Sohnes zu tun. Und seine Frau hat etwas beobachtet oder gehört, ist jedoch so verängstigt, dass sie nicht weiß, ob sie es uns sagen soll. Dann ist es für ihn von größter Wichtigkeit, dass sie schweigt.«
»Es könnten aber auch beide zusammen unter einer Decke stecken. Und weil die Mutter labiler ist und sich verplappern könnte, redet der Vater für beide«, sinnierte Natascha und begann, den Salat zu essen.
»Ja, auch das wäre möglich«, meinte Winterberg. »Wie so vieles andere auch.«
»Zum Beispiel, dass René einfach am Freitagmorgen seine Klamotten gepackt und den Eltern vorgemacht hat, dass er zur Schule geht. Damit sie nicht sofort nach ihm suchen.« Sie pikste ein Maiskorn auf die Gabel, steckte es in den Mund und hielt es gedankenverloren auf der Zunge.
Winterberg zerknüllte seine Bäckertüte. »Auch das ist denkbar. Dann hätten aber die Eltern uns gegenüber nichts zu verheimlichen.«
Natascha stocherte mit der Gabel im Salat herum. Plötzlich dachte sie wieder an das unnatürlich perfekte Wohnzimmer. »Ich habe den Eindruck, dass die beiden ganz gut eingespielt sind. Wenn du mich fragst, dann ist das nicht das erste Mal, dass sie anderen Menschen etwas vormachen. Sie sind geübt darin, eine Fassade aufrechtzuerhalten. Vielleicht läuft die Ehe schlecht, und die Nachbarn sollen das nicht merken; oder es gibt ein dunkles Familiengeheimnis, von dem niemand erfahren
Weitere Kostenlose Bücher