Knochenfinder
soll.«
Winterberg sah sie skeptisch an.
»Denk doch nur einmal an das Wohnzimmer«, fuhr Natascha fort. »Ist es dort etwa gemütlich? Hat es eine persönliche Note? Ich finde nicht. Auf mich hat alles gewirkt wie aus dem Versandhauskatalog. Es gibt keine Familienfotos, keine Zeitschriften liegen herum, keine Bücher. Weder Bonbonpapier noch Krümel lagen auf dem Tisch oder dem Boden. Kannst du dir vorstellen, dass einer von den beiden gemütlich auf dem Sofa liegt?«
Winterberg schien kurz zu überlegen. »Du hast recht. Ich verstehe, worauf du hinauswillst.«
»Aber das ist alles arg spekulativ. Wir brauchen mehr Fakten ... Und, fahren wir jetzt zu den Staudts?«
»Ja. Ich sag nur noch Lorenz Bescheid.«
Bei ihrem zweiten Besuch auf dem Giersberg sah sich Natascha die Nachbarhäuser der Familie Staudt mit einem genaueren Blick für die Details an. Die Gebäude und Vorgärten, die beim letzten Mal einen nahezu perfekten Eindruck bei ihr hinterlassen hatten, wirkten nun zum Teil recht schäbig. Bei manchen Grundstücken war der Zaun an vielen Stellen angerostet, an mehreren Haustüren blätterte die Farbe ab. Ähnliches traf auch auf das Haus der Staudts zu: Oberflächlich betrachtet wirkte es gepflegt und ordentlich, doch wenn man genauer hinschaute, fielen die Spuren der Zeit deutlich ins Auge. Auf dem Dach wuchs eine leichte Moosschicht, und der Putz wies größere Risse auf. So wie auch die mühsam errichtete gutbürgerliche Fassade, dachte sie.
Diesmal öffnete ihnen Michael Staudt die Tür. Man sah ihm an, dass er in der letzten Nacht wenig geschlafen hatte. Die Tränensäcke waren dicker als am Vortag; zudem hatte er sich heute nicht rasiert, sodass feine grau-blonde Stoppeln aus Kinn und Wangen sprossen. Er wirkte deutlich gealtert. Zunächst sah er abwesend in die Ferne, bevor er sich den Besuchern zuwandte.
»Gibt es Neuigkeiten?«, fragte er mit ausdrucksloser Stimme.
Winterberg ging einen Schritt nach vorn und wies mit der Hand in den Hausflur hinein. »Ich glaube, es wäre besser, wenn wir drinnen miteinander sprechen.«
»Ja. Ja, natürlich.« Staudt drehte sich um und führte sie in das unpersönliche Wohnzimmer mit der Überfülle an blauen Gegenständen. »Nehmen Sie bitte Platz. Sie müssen meine Frau entschuldigen. Sie hat wieder einen Migräneanfall und liegt jetzt oben, um sich auszuruhen.«
Er setzte sich in denselben Sessel wie am Tag zuvor, und auch die beiden Kommissare nahmen wieder ihm gegenüber Platz. Sein Blick wanderte unstet im Raum umher und blieb schließlich am leeren Sofa hängen. Einen kurzen Augenblick riss er die Augen auf, als würde er gerade an etwas Furchtbares denken.
Dann sah er seine Besucher an und zwang sich zu einem Lächeln, das sehr unnatürlich wirkte. »Möchten Sie etwas trinken?«
»Nein, danke«, entgegnete Winterberg. »Machen Sie sich wegen uns keine Umstände, unser Besuch dauert wahrscheinlich nicht lange.«
Natascha sah zur Stelle auf dem Sofa, die Staudt offenbar so erschreckt hatte. Auf dem braunen Leder war ein dunkler Fleck, etwa so groß wie ihre Hand. »Was ist da auf der Couch passiert?«
Staudt zuckte zusammen, bevor er antwortete: »Ach, Sie meinen diesen Fleck. Da ist uns ein Getränk umgekippt und dann auf den Teppich gelaufen.«
Natascha blickte genauer hin und bemerkte an der Sitzkante eine kleine, längliche Verfärbung, die darauf hinwies, dass ein Teil der Flüssigkeit vom Sofa herabgetropft war. Doch der Teppich war sauber – offenbar hatte sich jemand große Mühe gegeben, die Spuren wegzuwischen.
»Also, was gibt es Neues von René?«, fragte Staudt.
Winterberg lehnte sich nach vorne und sah ihm eindringlich in die Augen. »Leider noch nichts. Doch uns stellen sich mittlerweile neue Fragen. Zum Beispiel, wo René am Freitag in der Früh hingegangen ist. Wir wissen nämlich inzwischen, dass er nicht – wie Sie behauptet haben – in der Schule war.«
Staudts Kopf ruckte nach oben, er riss die Augen auf. »Wie bitte?«
»Wir haben in der Schule angerufen. Und die Stufenleiterin hat uns mitgeteilt, dass René schon am Freitag nicht in der Schule war. Sie hingegen haben ausgesagt, dass er am Freitag zwar zur Schule gegangen, danach aber nicht nach Hause gekommen wäre.« Winterbergs Stimme wurde scharf. »Außerdem haben Sie die Schule angerufen und Ihren Sohn für die kommenden Tage krankgemeldet – dass er vermisst wird, haben Sie mit keinem Wort erwähnt. Das ist doch recht sonderbar. Angesichts Ihres Verhaltens
Weitere Kostenlose Bücher