Knochenfinder
beschäftigten sich mit irgendetwas unter den Tischen. Und drei hellblonde Mädchen rechts von Winterberg blickten ihn gar an, als würde er sie von ihrem Schicksal als Schülerinnen befreien und sie augenblicklich zu einer Castingshow einladen.
»Herr Hauptkommissar Winterberg wird Ihnen nun ein paar Fragen stellen. Es geht, wie bereits gesagt, um René Staudt.« Oberstudienrat Habermann, ein schmaler Endfünfziger im dunkelgrauen Anzug und mit schütterem Haar, räusperte sich kurz und wies dann mit der Hand auf Winterberg. Die Störung des Unterrichts passte ihm offensichtlich überhaupt nicht, denn schon im Vorfeld hatte er den Kriminalhauptkommissar mit zusammengekniffenen Lippen begrüßt und dessen Hand nur so kurz geschüttelt, wie es die Höflichkeit gerade gebot.
»Guten Morgen«, begrüßte Winterberg die Klasse, und augenblicklich schienen alle völlig konzentriert und blickten nach vorn. Offenbar erkannten sie nun die Chance, wenigstens für kurze Zeit etwas anderes zu erleben als den üblichen Mathematikunterricht. »Wie Herr Habermann schon erwähnte, geht es um Ihren Mitschüler René Staudt. Er wird vermisst. Wir wissen, dass er schon am Freitag nicht in der Schule war. Vielleicht ist er nur abgehauen, vielleicht ist ihm aber auch etwas passiert ...«
Er hielt kurz inne, und das verfehlte seine Wirkung nicht. Plötzlich entstand Unruhe im Raum. Eine der drei Blondinen hielt sich die Hand vor den Mund, die anderen beiden sahen einander mit großen Augen an. Ein Junge mit Zopf hob die Augenbrauen und nickte wissend.
Winterberg sprach ihn sogleich an. »Können Sie mir mehr darüber erzählen? Sind Sie mit René befreundet?«
Der Schüler bewegte den Kopf hin und her, als ob er die Antwort erst abwägen müsste. »Das kommt drauf an, wie Sie Freundschaft definieren. Im Sinne von ›Wir kommen gut miteinander aus und haben keine Konflikte‹ schon. Wenn Sie jedoch mit Freundschaft gegenseitige Besuche und gemeinsames Abhängen am Wochenende meinen – dann nein.«
Das Mädchen neben dem Schüler grinste, und der Zopfträger richtete sich noch weiter auf. Offensichtlich gefiel er sich in der Rolle des Besserwissers. Das konnte ja heiter werden, dachte Winterberg.
»Danke für die Antwort«, sagte er und blickte in die Gesichter vor sich. »Wer von Ihnen hängt denn an den Wochenenden mit René ab? « Niemand meldete sich.
Das Mädchen neben dem Besserwisser sah den Hauptkommissar fragend an. »Haben Sie denn eine Vermutung, wo René jetzt ist?«
»Leider haben wir keine Ahnung, wo er sich im Moment befindet. Deshalb sind wir auch ganz dringend auf Ihre Hilfe angewiesen, um René zu finden. Wo könnte er sein? Vielleicht weiß jemand von Ihnen, was er am Freitag oder Samstag vorhatte. Mit wem ist er befreundet?«
Doch auch diesmal bekam er keine befriedigende Antwort. Die meisten Jugendlichen zuckten mit den Schultern, andere sahen einfach woandershin. Winterberg war erstaunt über das Desinteresse an ihrem Mitschüler.
»Wissen Sie, das finde ich jetzt sehr komisch«, fuhr er fort. »Da ist ein Mitschüler von Ihnen, den Sie jeden Tag sehen, mit dem Sie täglich mehrere Stunden im gleichen Raum sitzen. Und dann wollen Sie behaupten, dass Sie nichts über ihn wüssten?« Er blickte von einem zum anderen. »Das nehme ich Ihnen nicht ab.«
Ein Schwarzhaariger mit nach hinten gegelten Haaren meldete sich. »Er spielt Fußball. Fragen Sie doch da mal nach. FV Setzetal, Kreisliga B.« Bei den letzten Worten zeigte er ein spöttisches Grinsen. Vermutlich spielte er in einer höheren Klasse und wollte dies allen anderen zeigen.
»Das haben wir bereits getan«, entgegnete Winterberg. »Was fällt Ihnen sonst noch ein? Ging er auf Partys oder in Discos? LAN-Partys?«
Wieder reagierten die Schüler nur verhalten und schienen sich schon wieder zu langweilen. Die Befragung durch den Kommissar war wohl doch nicht so spannend, wie sie sich das erhofft hatten.
Winterberg wandte sich mit leiser Stimme an den Lehrer. »Können Sie mir mehr zu René sagen? Wie war er in der Schule? Hatte er Probleme?« Er warf einen Blick auf die Klasse. »Wo können wir reden? Im Lehrerzimmer?«
Der Oberstudienrat hob einen Mundwinkel und sah zu seinen Schülern. »Okay, wir können ins Lehrerzimmer gehen.« Er holte ein Mathematikbuch aus seiner schwarzen Aktentasche, öffnete es und blätterte kurz darin. Dann sagte er laut zu seinen Schülern. »Bearbeiten Sie die Aufgaben auf Seite dreiundsiebzig. Ich werde in wenigen
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