Knochenfunde
Augenschein nehmen, während ich den Schädel noch ein bisschen genauer untersuche?«
»Klar.« Er reichte ihr die Lampe. »Nicht gerade die spannendste Aufgabe, die mir je aufgetragen wurde, aber ich bin Ihnen stets zu Diensten.«
»Danke.« Sie leuchtete mit der Lampe in die Nasalhöhle. »Auf jeden Fall ein Weißer…«
»Kommen Sie Rick, wir stören hier nur.«
Irgendwie nahm Eve wahr, dass die beiden die Kapelle verlassen hatten und sie allein war. Es spielte keine Rolle. Ihr Unbehagen war in dem Moment verflogen, als sie den Schädel erblickt hatte. Er war einfach einer von den Verlorenen. Es war egal, ob es sich um Bently handelte oder um irgendeinen armen Obdachlosen. Am Ende war er ebenso zum Opfer geworden wie die kleine Carmelita, deren Rekonstruktion sie gerade beendet hatte. Wenn sie den Zustand des Schä-
dels bedachte und die Tatsache, dass die Zähne nach dem Tod he-rausgerissen worden waren, war er vielleicht noch ein bedauernswerteres Opfer gewesen.
Zeit, ihn kennen zu lernen. Zärtlich berührte sie den Schädel.
»Wie soll ich dich nennen?« Sie wusste, dass es jedem Außenste-henden verrückt erscheinen würde, aber sie hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, allen Schädeln, an denen sie arbeitete, Namen zu geben. Jeder hatte eine Geschichte und ein Leben gehabt. Sie hatten gelacht und waren von jemandem geliebt worden, sogar dieser arme, ramponierte Krieger. Offenbar hatte er seinen letzten Kampf nicht gewonnen, aber sie hoffte, dass er auch ein paar Siege davongetragen hatte.
»Victor? Kein schlechter Name.« Sie nickte. »Mir gefällt er.«
Vorsichtig schloss sie den schweren Sargdeckel. »Wir sehen uns morgen, Victor. Und dann schauen wir mal, ob wir dich nach Hause bringen können.«
»Fertig?« Galen stand im Durchgang. »Rick hat ganze Arbeit geleistet. Ihre Werkstatt ist hervorragend ausgestattet, ausreichend beleuchtet und beheizt. Tadellos sauber wie eine Kaserne. Wollen Sie sich Ihren Arbeitsplatz ansehen?«
Sie wollte gerade ja sagen, hielt jedoch inne. Verdammt, sie fühl-te, wie ihre Energie sie verließ. Sie trat auf ihn zu. »Nein, ich vertraue Ihnen. Ich werde es ja morgen sehen, wenn ich mit der Arbeit anfange.«
»Morgen?«
»Sie hatten Recht, als Sie sagten, ich sei noch nicht auf dem Damm. Ich dachte, ich könnte heute Abend anfangen, aber ich bin zu müde. Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn ich mich so schwach fühle.« Sie verzog das Gesicht. »Ich bin froh, wenn ich endlich wieder voll bei Kräften bin. Obwohl ich den ganzen Nachmittag geschlafen habe, würde ich mich am liebsten gleich wieder ins Bett legen.«
»Dann sollten Sie das auch tun. Es freut mich, dass Sie nicht darauf bestehen, schon heute mit der Arbeit anzufangen.«
»Ich habe bereits angefangen.« Über ihre Schulter hinweg warf Eve einen Blick auf den schwarzen Sarg. »Aber um meine Geräte aufzubauen und die Messungen durchzuführen, muss ich hellwach und konzentriert sein. Victor kann noch ein paar Stunden warten.«
»Victor?«
»Der Schädel.«
»Aha.« Galen sah sie nicht an, als sie sich auf den Weg machten.
»Ich möchte ja nicht unhöflich sein, aber reden Sie immer mit Schä-
deln?«
»Nein.« Sie schaute ihm direkt in die Augen. »Ich bin sehr wäh-lerisch.«
»Meinetwegen. Ich wollte mich nur vergewissern.« Sein Blick
wanderte zu Rick und Melton hinüber, die am Kirchenportal standen.
»Rick scheint ein netter Kerl zu sein. Und aufgeweckt. Er ist oben im Norden aufs College gegangen.«
»Das wundert mich nicht. Er redet wie ein Yankee. Wo hat er
denn studiert?«
»In Nôtre Dame. Großer Footballfan.«
»Das sind sie in der Gegend alle. Mit seinen blonden Haaren und den roten Wangen sieht er aus wie ein echter Amerikaner.« Sie wechselte das Thema. »Haben Sie herausgefunden, wann Marie
morgen beerdigt wird?«
»Um elf. Wollen Sie immer noch hingehen?«
Sie nickte. »Ich werde früh anfangen und dann eine Pause einle-gen, um zu der Beerdigung zu gehen.« Als sie und Galen die Kirche verließen, streckte sie Rick, der immer noch mit Melton am Eingang stand, die Hand entgegen. »Vielen Dank für alles. Wir sehen uns dann morgen früh.«
»Ich freue mich schon darauf.« Er schüttelte ihre Hand. »Ich werde alles für Sie vorbereiten. Mir ist aufgefallen, dass der Schädel ein bisschen schmutzig ist, aber ich dachte, Sie wollten ihn vielleicht selber säubern.«
»Das ist richtig. Wir wollen nicht riskieren, dass er noch mehr Schaden davonträgt.«
Rick nickte
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