Knochenfunde
den Garten gehen und mir ein bisschen die Beine vertreten.« Er ging in Richtung Treppe. »In einer halben Stunde komme ich zurück und bringe Kaffee mit.« Einen Augenblick später hörte Eve, wie die Tür hinter ihm zuschlug.
Was für ein seltsamer und komplizierter Mann, dachte sie, als sie sich wieder Victor zuwandte. Anfangs hatte sie sich abwechselnd über ihn amüsiert und geärgert, wenn er sich mit Galen anlegte, aber seit er beschlossen hatte, ihr in ihrem Arbeitszimmer Gesellschaft zu leisten, hatte sie angefangen, ihn zu mögen und zu respektieren. Er war intelligent und aufmerksam, und seine rührende Ehrlichkeit machte ihn liebenswert.
»Nathan hat mich gebeten, herunterzukommen und dir Gesell-
schaft zu leisten.« Joe erschien auf der Treppe. »Nein, er hat mich nicht gebeten, er hat mir den Befehl erteilt. Er wollte nicht, dass du allein bist.«
Eve zwang sich, entspannt zu bleiben. »Er hat einen übertriebenen Beschützerinstinkt. Anscheinend hält er mich für völlig hilflos.
Aber ich kann auf mich selbst aufpassen.«
»Ich weiß. Ich habe es dir beigebracht.«
Ja, das hatte er. Während der ersten fünf Jahre nach Bonnies Tod hatte er sie in Selbstverteidigung ausgebildet. Sie war hilflos und verzweifelt gewesen, und er hatte sie stark gemacht. Sie wandte sich von ihm ab und schaute Victor an. »Du hättest ja nicht auf Nathan zu hören brauchen.«
»Ich bitte dich. Mein Beschützerinstinkt ist ebenfalls ziemlich ausgeprägt, wie du weißt.« Er zögerte. »Wenn du nicht willst, dass ich runterkomme, kann ich ja hier oben stehen bleiben.«
Sie wollte ihn nicht in ihrer Nähe haben. Immer wenn er sich im selben Raum befand, spürte sie seine Gegenwart überdeutlich. Die ruhige Gelassenheit ihrer Beziehung hatte sich in Luft aufgelöst.
Nun, sie würde sich daran gewöhnen müssen. Aus Vernunftgründen hatte sie Galen versprochen, mit Joe zu kooperieren. Schließlich war sie kein Kind, das sich unter der Bettdecke versteckte.
»Dann kannst du genauso gut runterkommen.« Sie hielt ihren
Blick auf Victor gerichtet. »Wenn du am Kamin sitzt, störst du mich weniger, als wenn du da oben auf der Treppe rumhängst wie ein Wasserspeier.«
»Du lieber Himmel«, sagte er, als er die Stufen hinunterstieg.
»Nach dem Vergleich garantiere ich dir, dass ich nicht rumhängen werde.« Er setzte sich in den Sessel. »Das haben wir ja schon oft genug durchexerziert.«
Ja, in ihrem Haus am See hatte er hunderte von Stunden auf dem Sofa gesessen, gelesen, Papierkram erledigt, Jane bei den Hausaufgaben geholfen, während Eve an ihren Rekonstruktionen tüftelte. Er hatte ihr den Nacken und die Schultern massiert, wenn sie müde und erschöpft war. Er hatte sie an die frische Luft gezerrt und Spaziergänge mit ihr gemacht, wenn sie so in ihre Arbeit vertieft war, dass sie das Haus gar nicht mehr verließ.
»Das war eine schöne Zeit, nicht wahr?«, sagte Joe leise.
Verdammt, er wusste genau, welche Erinnerungen er mit dieser Bemerkung in ihr wachrief.
Sie sagte nichts, konzentrierte sich weiter auf Victor. Wie zum Teufel sollte sie Joe ignorieren, wenn er drei Meter von ihr entfernt im Sessel saß und sie jeden einzelnen seiner Atemzüge spürte? Aber er würde ja nicht lange bleiben. Nathan würde bald zurückkommen und ihr Kaffee bringen.
Am besten, sie arbeitete einfach unbeirrt weiter.
»Schön, Sie zu sehen, Mr Galen.« Der junge rothaarige Mann
stand am Flugsteig, als Galen aus New Orleans eintraf. Er reichte Galen die Hand. »Mein Name ist David Hughes. Willkommen in
Atlanta. Ich habe schon viel von Ihnen gehört. Bob Parks hat mir Fotos von Ihnen gezeigt und mich gebeten, Sie in Empfang zu nehmen. Haben Sie Gepäck?«
Galen schüttelte den Kopf. »Ich reise gern leicht. Haben Sie veranlasst, dass das Kind überwacht wird?«
»Gleich nach Ihrem Anruf gestern Abend.« Hughes begleitete ihn den Korridor hinunter. »Die Streifenwagen, die Quinn angefordert hat, patrouillieren in der Gegend, und mindestens zwei Beamte in Zivil sind im Einsatz. Die Polizisten und die FBI-Leute, von denen Sie gesprochen haben, scheinen zusammenzuarbeiten. Meine Leute mussten ziemlich aufpassen, ihnen nicht in die Arme zu laufen.«
»Haben Sie schon irgendeine Spur von Jules Hebert entdeckt?«
»Nein, noch nicht. Ich habe Kopien von dem Foto gemacht, das Sie uns geschickt haben, und sie verteilt. Vielleicht ist er gar nicht hier.«
»Vielleicht aber doch. Ich an seiner Stelle wäre jedenfalls genau hier, wenn
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