Knochengrube: Mystery-Thriller (German Edition)
hatte also doch ein wenig aufgepasst.
»Ja, das stimmt, obwohl es in dieser Hinsicht einen größeren Ermessensspielraum gab als allgemein angenommen. Zwischen dem Book of Lindisfarne und den Très Riches Heures des Herzogs von Berry gibt es gewaltige Unterschiede. Das lässt Raum für Livius’ Geschichte über Rom, für Aristoteles’ Nikomachische Ethik , Vergils Aeneis bis zu Marco Polos Il Milione . König Karl V. von Frankreich war sogar so ein Marco-Polo-Fan, dass er fünf Exemplare von dem Buch besaß, eines davon war in goldenes Tuch gebunden.«
»Aber diese Bücher umfassen Jahrhunderte.«
»Das ist korrekt, aber der Mönch, oder Schreiber, dem ich die Arbeiten in dieser Ausstellung zuschreibe, lebte von der Mitte bis zum Ende des 11. Jahrhunderts, und er schrieb stets mit dieser charakteristisch geschwungenen, leicht nach links geneigten Schrift. Möglicherweise war er Linkshänder, oder er hatte Probleme mit den Augen. Seine Illustrationen sind bemerkenswert, sie haben einen ungewöhnlich scharfen psychologischen Blick.« Während die meisten Figuren steif und ausdruckslos dargestellt wurden, hatte Beth den Eindruck, dass dieser unbekannte Schreiber einen Weg gefunden hatte, in feinen Abstufungen seine Empfindungen in seine Arbeiten mit einfließen zu lassen.
»Warten Sie«, sagte van Nostrand. »Selbstverständlich bewundere ich Ihre überragenden Kenntnisse in dieser Materie, aber waren der Schreiber, der den Text verfasst, und der Illustrator, der die Bilder gestaltet, nicht immer zwei verschiedene Personen?«
»In der Regel war das tatsächlich der Fall. Aber irgendetwas sagt mir, dass dieser Mann, der Michelangelo der Handschriften, beides gemacht hat. Ich habe bewusst den Titel ›Das Genie des Klosters‹ für die Ausstellung gewählt, weil er zwei Deutungen zulässt: als Würdigung der Talente der Mönche im Allgemeinen und als Geste der Anerkennung dem Mann gegenüber, von dem ich glaube, dass er alle anderen überflügelte.«
Van Nostrand wirkte noch immer nicht überzeugt, also beschloss Beth, ihm etwas Konkreteres in die Hand zu geben, an dem er sich festhalten konnte. »Dieser Mann, dieser Künstler, war stolz auf das, was er geschaffen hatte. Obwohl die Schöpfer der Werke im Allgemeinen anonym blieben, schaffte er es immer wieder, etwas von sich einzufügen, irgendwo inmitten des geschriebenen Textes.«
»Aber doch gewiss nicht in der Bibel?«
»O nein«, sagte Beth, »das hätte er nicht getan. Das hätte ihn seinen Job gekostet oder seine Stellung im Orden. Nein, er wählte einen ungewöhnlicheren Weg, um sich selbst zu verewigen.«
»Und das wäre …?« Der Krümel an der Lippe verlor endlich den Halt und wurde von der abendlichen Brise davongetragen.
»Er sprach einen Fluch aus.«
»Er tat was?«
»Er belegte jeden mit einem Fluch, der seine Arbeiten stahl oder verunstaltete.«
Van Nostrand lachte, und Beth ebenfalls. Es war der erste Hinweis auf eine Verbindung zwischen den jetzt ausgestellten Büchern, der ihr aufgefallen war. Ganz oben auf einer etwa tausend Jahre alten Handschrift aus der Abtei von Reading hieß es: Liber sancte Marie Radying(ensis) quem qui alienaverit anathema sit . Oder, mit anderen Worten: ›Verflucht sei, wer sich an diesem Buch zu schaffen macht.‹ Auf anderen Handschriften, die von überall auf den Britischen Inseln stammten, standen ähnliche Flüche, manche waren sogar noch farbenreicher und kunstvoller. Obwohl es schwierig war, alle Handschriften exakt zu datieren, schien es Beth, als sei der unbekannte Mönch mit der Zeit immer aufmüpfiger geworden, bis er irgendwann unvermittelt von der Bildfläche verschwand. Hatte seine Gesundheit ihn ihm Stich gelassen? War er gestorben? Wurde er nicht länger mit derlei Aufträgen betraut? Und schließlich: Wer war er gewesen?
Diese Ausstellung war Beth’ erster wohlgeplanter Versuch, ihn zu finden.
»Tut mir leid, dass ich zu spät komme«, sagte Carter, der unvermittelt hinter ihr aufgetaucht war. Er streckte van Nostrand die Hand entgegen. »Carter Cox.«
»Alexander van Nostrand. Art News .«
Beth drehte sich zu ihrem Mann um. Keine rote Fliege, nur ein blaues Baumwollhemd mit offenem Kragen, marineblauer Blazer und Khakihosen. Sie zog ihn immer damit auf, dass er sein Outfit einfach den Models aus dem Geschäft nachkaufte.
»Ach, Sie sind also der glückliche Gatte?«
Carter lächelte. »Das höre ich oft.«
Selbst jetzt, nachdem sie mehrere Jahre verheiratet waren, genoss Beth es
Weitere Kostenlose Bücher