Knochengrube: Mystery-Thriller (German Edition)
weißes Pflaster am Arm.
»Nein, dem geht’s gut.« Er trug ein T-Shirt des California Science Center und dazu eine buntgemusterte Hose.
Beth lehnte sich gegen die Plastiklehne ihres Stuhls. Der Aluminiumrahmen knackte. Der volle Mond tauchte die Bäume und Büsche in ein kaltes silbernes Licht, so dass sie wie eine Radierung wirkten.
Sie wusste, was ihn plagte. Sie kannte Carter gut genug, um zu ahnen, was nach so einem schrecklichen Tag in ihm vorging.
»Du weißt, dass es nicht deine Schuld ist«, sagte sie sanft.
Er antwortete nicht.
»Der Mann war verrückt.«
»Das weiß ich«, räumte er ein, »aber jetzt ist er tot.«
»Aber nicht deinetwegen. Er hat dich mit einem Messer angegriffen, du hast dich nur verteidigt.«
Er zuckte die Achseln, als wollte er sagen: Ich weiß, dass du recht hast, aber das spielt keine Rolle.
Es kam Beth vor, als hätten sie diese Unterhaltung schon einmal geführt, damals in New York. Nachdem der Laborassistent den Laser falsch benutzt und damit die tödliche Explosion ausgelöst hatte, hatte Carter sich für alles die Schuld gegeben. Wie eigenartig, dass sie selbst hier in L. A., wo sie ganz neu anfangen wollten, erneut von solchen grauenvollen Unfällen heimgesucht wurden.
»Und wieso bist du auf den Beinen?«, fragte Carter, als wollte er das Thema wechseln.
»Ich weiß nicht. Ich bin aufgewacht, und das Bett war leer.«
Doch Carter konnte genauso in ihr lesen, wie sie in ihm. Er sah die Sorge in ihrem Blick. Das war ein Grund gewesen, weshalb er aufgestanden und nach draußen gegangen war; er wollte nicht, dass sie durch sein Herumgewälze gestört wurde. Er hatte versucht zu schlafen, es war ein langer Tag gewesen. Doch jedes Mal, wenn er die Augen schloss, sah er Geronimos entsetztes Gesicht vor sich, während er langsam auf den Grund der Grube sank. Die ganze Zeit dachte er darüber nach, ob er irgendetwas hätte tun können, ob es irgendeinen Weg gegeben hätte, ihn zu retten.
Und er fragte sich, wie wohl der richtige Name des Mannes lauten mochte.
Niemand kannte seinen Namen, und möglicherweise würde niemand ihn je erfahren. Selbst wenn man eines Tages seine Leiche aus dem Teer barg, war es nicht sicher, ob er irgendwelche lesbaren Papiere bei sich hatte, anhand derer man ihn identifizieren könnte. Er war zu einem weiteren anonymen Opfer der Grube geworden.
»Immerhin ist es draußen nicht mehr so heiß«, sagte Beth.
»Ja, das ist wirklich angenehm.«
Sie schwiegen erneut.
Carter leerte die Bierflasche. »Wie kommst du mit deiner Arbeit voran? An diesem Bestiarium?«
»Gut«, sagte Beth und klang so munter, wie die späte Stunde es erlaubte. »Das Buch ist einfach atemberaubend, das schönste, das ich je gesehen habe. Ich kann es kaum erwarten, bis wir die Schriftanalyse fertig haben. Zu versuchen, es jetzt schon zu lesen, ist eine einzige Quälerei.«
»Wieso? Du bist doch ziemlich gut in Latein.«
»Der Text ist so alt und die Handschrift so eigenartig, dass ich Monate bräuchte, es selbst zu übersetzen. Ganz zu schweigen davon, dass einige Stellen extrem ausgeblichen sind und andere so kompliziert mit den Illustrationen verwoben, dass es schwierig ist, das eine vom anderen zu trennen.«
»Doch davon abgesehen«, lachte Carter, »ist es ein Kinderspiel.«
Beth lächelte. »Bei meinem Job brauche ich zumindest keine Angst zu haben, mit einem Messer angegriffen zu werden.«
»Aber du musst dir Gedanken um den geheimnisvollen Mr al-Kalli machen.« Eine Brise strich durch den Canyon unter ihnen und ließ die trockenen Blätter rascheln. »Sitzt er dir sehr im Nacken?«
»Und wie«, lachte Beth. »Er benimmt sich, als würde er beim Arzt auf den Laborbericht warten.«
Carter nickte mitfühlend.
Beth hievte sich aus dem Gartenstuhl hoch. »Ich versuche, noch etwas Schlaf zu bekommen.«
Carter hob den Arm, ergriff ihre Hand und zog sie zu sich auf den Schoß. Beth’ Morgenmantel öffnete sich. »Hey, was sollen die Nachbarn denken?«, sagte sie.
»Das ist das Tolle an diesem Haus«, sagte Carter und deutete über den weiten, dunklen Canyon. »Es gibt keine.«
Er senkte den Kopf und küsste sie. Und zum ersten Mal seit langer Zeit hatte Beth das Gefühl, es ebenfalls zu wollen. Vielleicht lag es am Schock, nachdem sie erfahren hatte, dass Carter um ein Haar in der Teergrube getötet worden wäre. Vielleicht war es auch etwas vollkommen anderes, aber in diesem Moment dachte sie weder an ihr Baby noch an die Arbeit, sondern nur an ihren Mann
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