Knochengrube: Mystery-Thriller (German Edition)
Schnelligkeit alles angegriffen und verschlungen hatte, vom Wasserbüffel bis zum Nilpferd.
Es sei denn, sie wollte spielen.
Wie die Katze, deren Reißzähne es hatte, schien das Ungeheuer seine Beute manchmal zu verhöhnen, mit ihr zu spielen und zu zermürben, ehe es unvermittelt des Spiels müde wurde und sie in Stücke riss.
Jetzt verharrte es zögernd an der Kante, die Beine vor dem Leib auseinandergespreizt wie ein Krokodil, als wäre es noch unentschieden, zu welcher Seite es losstürzen sollte.
»Immer noch keine Ahnung?«, sagte al-Kalli.
Rafik starrte das Ungeheuer sprachlos an.
»Dann würde ich rennen, wenn ich du wäre«, riet al-Kalli leise auf Arabisch. Er wollte nicht, dass das Spiel zu schnell vorbei war.
Gleich einer Eidechse sprang die Kreatur vom Felsvorsprung und landete mit einem dumpfen Aufprall auf allen vieren. Rund um die breiten, klauenbesetzten Füße wirbelte Staub auf. Der lange Reptilienschwanz peitschte zuerst in die eine, dann in die andere Richtung durch den Sand. Wie ein Besen kehrte er ein paar zerbröselte Knochen zur Seite. Die Knochen klapperten, als sie über den Boden rollten.
Das Ungeheuer wusste jetzt, wo Rafik war, und glitt vorwärts, den Kopf mit den Reißzähnen noch immer hoch erhoben. Zwischen den Schuppen sprossen Büschel dreckiger Haare, die dort völlig fehl am Platze wirkten.
Rafik sah das Tier kommen und befolgte al-Kallis Rat. Plötzlich stürzte er aus der Schleuse in den offenen Käfig und rannte nackt zum äußersten Ende des Geheges.
Die Kreatur wandte den Kopf, um ihn ohne zu blinzeln mit einem riesigen Auge zu beobachten.
Hatte sie schließlich doch Hunger bekommen? Würde sie jetzt wieder fressen?
Verzweifelt sprang Rafik an der schulterhohen, weiß gefliesten Mauer hoch, die das Gehege umgab. Die dicken Gitterstäbe aus Stahl reichten noch wesentlich höher, höher, als er je würde emporklettern können … oder sich festhalten konnte. Jedes Mal, wenn er zurückfiel, wirbelte er herum, um zu sehen, wo das Ungeheuer war.
Das jetzt erneut auf ihn zukam. Vorbei an dem Wasserbecken mit dem weichen, sandigen Boden. Vorbei an den verkrüppelten Olivenbäumen mit den knorrigen, dürren Zweigen.
»Wo ist er?«, rief al-Kalli laut.
Rafik schaffte es kaum, die Worte auszuspucken. »Afghanistan.«
»Das ist ein großes Land.«
»Er ging dorthin, um zu kämpfen.«
»Das reicht nicht.«
»Das ist alles, was ich weiß!« Rafiks Stimme brach vor Angst und Schmerz.
Die Bestie ruckelte mit dem Kopf und bewegte sich schlängelnd vorwärts. Al-Kalli wusste, dass sie sich meistens langsam bewegte … und, wenn sie wollte, schnell wie der Blitz sein konnte. Über kurze Distanzen konnte sie es sogar mit einer Gazelle aufnehmen.
»Wie kann ich ihn finden?«, rief al-Kalli verärgert. Er war der Sache überdrüssig und wollte Rafik wissen lassen, dass er mit seiner Geduld am Ende war.
Die Bestie war jetzt so nahe, dass Rafik erneut rennen musste. Würde er versuchen, sich in der Höhle zu verstecken? Nein, das wäre absurd. Das würde er nie tun.
Stattdessen rannte er auf den höchsten Olivenbaum zu, sprang auf den untersten Ast und kletterte brüllend hinauf bis in den schwankenden Wipfel.
Al-Kalli lächelte und drehte sich zu Jakob um, der das Lächeln erwiderte. Genau diesen Trick hatten sie schon einmal gesehen und wussten, wie er enden würde.
»Was meinst du«, fragte al-Kalli, »wie lange du da oben ausharren kannst?«
Rafik brüllte nur erneut, und die anderen Tiere in der Anlage stimmten mit ein. Aus den Nachbargehegen drangen Gebell und Gejaule und einsames Geheule zu ihnen herüber.
»Er hat …«, setzte Rafik an, »er hat …« Doch er konnte den Satz nicht zu Ende bringen. Die Bestie hatte sich umgedreht und stapfte auf den Baum zu.
»Er hat was?«
»Er hat eine Freundin.«
»Wen?«
»Fatima. Fatima Sayad.«
»Und wo kann ich sie finden?«
»Tikrit!« Er heulte vor Entsetzen auf und klammerte sich an die schwankenden Zweige. »In der Straße der Märtyrer.«
»Das ist gut«, sagte al-Kalli, »das ist sehr gut.«
»Gnade!«, schrie Rafik, »bitte zeigen Sie Gnade!«
Doch das Tier hatte jetzt den Baumstamm erreicht, und tat genau das, was al-Kalli erwartet hatte. Es erhob sich auf die stämmigen Hinterbeine, richtete seinen langen schuppigen Leib zu seiner vollen Höhe von mehr als vier Metern auf und streckte den Kopf nach Rafiks baumelnden Beinen aus. Er riss sie nach oben, bis sie gerade außerhalb der Reichweite waren,
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