Knochenhaus (German Edition)
tatsächlich noch einmal die Augen schließt und sich zum Aufwachen zwingt. Doch als sie die Augen wieder öffnet, ist alles genau so wie vorher: die Schnur, die ihr inzwischen schmerzhaft in die Handgelenke schneidet, das Fenster, hinter dem nichts ist, das seltsame Schaukeln.
Verzweifelt versucht Ruth, sich zu besinnen, was passiert ist. Sie war bei der Ausgrabung, um sich den Janus-Stein anzusehen. Noch immer hat sie die beiden Gesichter vor Augen, die drohend und ungerührt zu ihr aufblicken. Und dann hat jemand sie angesprochen. Wer noch gleich? Sie weiß noch, dass sie keine Angst hatte, sondern einfach nur erstaunt war und etwas genervt über die Störung. Sie erinnert sich auch, dass sie aus dem Graben geklettert ist, um etwas aus einem Auto zu holen. Dann muss sie plötzlich doch noch Angst bekommen haben, denn sie hat versucht, Nelson anzurufen. Und seither – nichts mehr.
«Aha. Sie sind wach.»
Ruth dreht den Kopf und erkennt, was ihr eigentlich schon die ganze Zeit hätte klar sein müssen. Sie ist auf einem Boot, ganz ähnlich dem von Max. Nein, Moment, das ist das Boot von Max. Der Stoffhund, Elizabeths Hund, grinst vom Bett zu ihr herüber. Sie selbst liegt auf der Kombüsenbank. Gleich gegenüber sind die Spüle und der Herd, auf dem Max ihr vor einer gefühlten Ewigkeit ein leckeres Mahl gekocht hat. Die Kräuterbündel hängen nach wie vor malerisch von der Decke herab. Und auf den Stufen, die vom Deck herunterführen, steht Sir Roderick Spens. Was hat der denn hier zu suchen?
«Können Sie mir helfen?», sagt Ruth zu ihm. «Ich bin gefesselt.»
Zu ihrer Verwirrung lässt Roderick ein schrilles Kichern hören. «Gefesselt? In der Tat. Doktor Galloway findet das alles höchst faszinierend. Sie ist ganz gefesselt.»
Ruth kann sich immer noch nicht erklären, was hier vor sich geht, doch plötzlich hat sie eine Heidenangst. Und am meisten ängstigt sie Rodericks Gesicht, das doch so gütig wirkt mit seinen mattblauen Augen und dem weißen Haarschopf.
«Lassen Sie mich wieder frei», sagt sie und versucht, möglichst viel Autorität in ihre Stimme zu legen.
«Aber ich kann Sie doch nicht freilassen», erwidert Roderick im selben, leicht belustigten Ton wie vorher. «Sie haben schließlich das, was ich will.»
«Was?»
«Sie haben Detective Inspector Harry Nelsons Kind. Sie haben bei ihm gelegen, und nun sind Sie guter Hoffnung. Sie tragen seine Tochter unter dem Herzen. Und die will ich.»
Ruth starrt ihn an. Ihr wird eiskalt vor Entsetzen. Die altmodische Ausdrucksweise – «bei ihm gelegen … guter Hoffnung … unter dem Herzen tragen» – macht alles nur noch grauenvoller. Aus irgendeinem Grund kennt dieser alte Mann ihr Geheimnis; er weiß, dass sie von Nelson schwanger ist, und er will sein Wissen für etwas Fürchterliches nutzen.
Immer noch lächelnd, kommt Sir Roderick näher, und Ruth sieht die blitzende Klinge in seiner Hand.
«Ich will das Kind», sagt er noch einmal.
Nelson starrt Cathbad fassungslos an.
«Was willst du denn damit sagen?»
«Max Grey. Ich glaube, er hat irgendetwas mit Ruths Verschwinden zu tun.»
Als Cathbad so unvermittelt in Nelsons Büro gestanden hatte – war das wirklich erst gestern gewesen? –, hatte er neben seinem sechsten Sinn auch ganz reale Informationen über Max zu bieten. Offenbar hatte er sich mit einem befreundeten Druiden unterhalten, der in Irland lebt. «Er kennt Max Grey seit einer Ewigkeit, aus der Zeit, als er noch in Irland war. Er hat ihn mir ganz genau beschrieben. Nur dass er damals noch einen anderen Namen hatte. Und Pendragon …»
«Bitte wer?» Nelson zuckte fast schmerzlich zusammen.
«Pendragon. Der Freund, von dem ich rede. Er meint, dieser angebliche Max Grey sei eine ruhelose Seele. Er stecke voll innerer Gewalt.»
Obwohl ihm das Netzwerk dieser Druiden durchaus Bewunderung abrang, hatte Nelson das Ganze zu diesem Zeitpunkt als bloßen Esoterik-Mist abgetan. Doch jetzt liegt echte Dringlichkeit in seiner Stimme, als er fragt: «Wie kommst du darauf, dass er etwas damit zu tun hat?»
«Als ich Ruth nirgends finden konnte, habe ich ihn angerufen. Er ging nicht ran. Dann habe ich seine Studenten angerufen. Sie haben ihn den ganzen Tag noch nicht gesehen.»
«Wo wohnt er denn?»
«Auf einem Boot, soviel ich weiß. Es liegt in der Nähe von Reedham.»
«Dann mal los.» Nelson steckt sein Handy in die Tasche. «Statten wir ihm einen kleinen Besuch ab.»
Ruth schreit so laut, dass sie beide erschrecken.
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