Knochenhaus (German Edition)
hektisch Lauras Nummer in sein Handy. Sofort springt die Mailbox an. Er versucht es noch einmal und übersieht dabei die vier verpassten Anrufe von Judy Johnson. Er wirft einen Blick auf die Uhr. Es ist vier. Michelle kommt frühestens um sechs nach Hause. Wo steckt Laura? Seine geliebte ältere Tochter, so korrekt und wohlerzogen (wie eins der Mädchen aus Betty und ihre Schwestern , hat Michelle immer gesagt). Wo kann sie bloß sein?
«Hat Laura donnerstags irgendwelche Veranstaltungen nach der Schule?»
«Was weiß ich?»
«Versuch’s weiter bei ihr.» Nelson drückt Rebecca das Handy in die Hand. «Wir fahren nach Hause.»
Ohne Rebeccas Litanei aus Protesten, Drohungen und Schimpftiraden auf seine Fähigkeiten als Vater zu beachten (in so etwas hat er jede Menge Übung), schleift er sie durch das Schulgebäude und über den inzwischen verlassenen Sportplatz bis zu der Stelle, wo er seinen Wagen vor die Wand gesetzt hat.
«Dad! Dein Wagen!» Zum ersten Mal klingt auch Rebecca ernstlich entsetzt.
«Versuch’s weiter bei Laura.»
Sie wird längst zu Hause sein. Es sieht ihr ganz ähnlich, als Erste nach Hause zu kommen, den Herd anzuwerfen und für die ganze Familie Abendessen zu kochen. Ein Engel, das ist sie. Nelsons Augen werden feucht, wenn er daran denkt, was für ein Engel seine ältere Tochter ist. Rebecca war immer schon eine kleine Rebellin, außerdem sitzt sie heil und gesund neben ihm auf dem Beifahrersitz, er braucht sie also nicht zu verklären. Aber Laura … Laura ist irgendwo allein da draußen, allein mit einem Psychopathen, der ihr auf den Fersen ist. Vielleicht hat er sie längst gefunden, vielleicht hat er … Nelson tritt das Gaspedal bis zum Anschlag durch.
«Dad! Willst du uns umbringen?»
«Ruf weiter an.»
Auf zwei Rädern biegt er in die Einfahrt ein. Michelles Wagen ist nicht zu sehen, aber er hat auch nicht erwartet, dass sie schon zu Hause ist. Wird sie ihm die Hölle heißmachen, weil er sie nicht gleich angerufen hat? Nein. Michelle würde auch wollen, dass er erst einmal alles tut, um ihre Töchter zu retten.
«Laura!», brüllt Nelson, während er noch die Haustür aufreißt.
In der folgenden Stille glaubt er sein Herz brechen zu hören. Doch dann nimmt er, direkt über seinem Kopf, ein leises Geräusch wahr, wie das Scharren einer Ratte.
«Laura?» Nelson ist schon halb die Treppe hinauf.
«Dad! Nicht!» Rebecca hält ihn am Arm fest. Völlig verständnislos dreht er sich zu ihr um, versucht, sie abzuschütteln, und bemerkt im selben Moment zweierlei: Lauras blumenbedruckten Rucksack, der neben der Haustür liegt, und ein Paar Männerturnschuhe daneben.
«Dad?»
Und da steht Laura oben am Treppenabsatz – nicht tot, sondern wunderbar lebendig, in einem Bademantel, den sie eng um den Körper gewickelt hat.
«Laura! Mein Schatz!» Nelson sprintet nach oben, um sie in die Arme zu schließen. Sie ist in Sicherheit. Großer Gott, sie ist in Sicherheit. Danke, lieber Gott! Ich werde am Sonntag ganz sicher in die Kirche gehen. Sie lebt. Sie leben beide … Ein Bademantel?
Er lockert seine Umarmung, registriert Lauras zerzauste Erscheinung und Rebeccas vergebliche Versuche, hinter ihm im Erdboden zu versinken, und aus einem der Zimmer im oberen Stock kommt immer noch dieses Scharren. In Windeseile tritt Nelson Lauras Zimmertür auf.
Und findet dort einen nur notdürftig bekleideten jungen Mann vor, der gerade versucht, aus dem Fenster zu klettern.
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31
Nelson braucht ungefähr eine Sekunde, um sich vom verzweifelten Vater wieder in den aggressiven Polizisten zurückzuverwandeln. Mit einem Knall schließt er das Fenster und dreht sich dann zu dem Jungen um, der sich vor Verlegenheit windet. «Mach, dass du in die Klamotten kommst, Freundchen, und dann raus aus meinem Haus. Wenn ich dich hier noch mal erwische, wanderst du in den Knast.»
Rebecca und Laura stehen unten an der Treppe, halten einander umschlungen und sehen fassungslos zu ihm hinauf.
«Hast du das gewusst?», fährt er Rebecca an. «Hast du gewusst, was sie hier treibt?»
«Nein. Ich schwör’s!»
Nelson weiß, dass sie lügt, aber dafür bleibt jetzt keine Zeit. Er hat bereits die Nummer von Clough gewählt. «Cloughie. Irgendein Spinner bedroht meine Töchter. Ich brauche Polizeischutz hier, und zwar sofort.» Als er auf das Display seines Handys schaut, sieht er, dass Judy inzwischen sechsmal vergeblich angerufen hat.
«Setzt euch ins Wohnzimmer», befiehlt er den
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