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Knochenhaus (German Edition)

Knochenhaus (German Edition)

Titel: Knochenhaus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elly Griffiths
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Roderick hält inne und mustert sie fragend.
    «Warum wehren Sie sich?», fragt er.
    «Was glauben Sie denn?», brüllt Ruth ihn an. «Ich sitze hier mit einem Verrückten auf einem Boot fest. Einem Verrückten mit einem Messer.»
    Roderick wirkt tief gekränkt. «Ich bin nicht verrückt», erklärt er. «Ich habe mein altphilologisches Studium in Cambridge mit Auszeichnung abgeschlossen.»
    Ruth kennt genügend Oxford- und Cambridge-Absolventen, um zu wissen, dass das eine das andere nicht unbedingt ausschließt. Doch sie weiß auch, dass ihre einzige Hoffnung darin liegt, Roderick zum Reden zu bringen. So versucht sie, ihre Stimme ruhig und vernünftig klingen zu lassen, als wäre dies einfach eine nette Plauderei unter Akademikern.
    «Ich habe am University College in London Archäologie studiert», erzählt sie. «Da gibt es auch einen sehr guten altphilologischen Fachbereich.»
    «Das University College London», sagt Roderick nachdenklich. «Eine äußerst renommierte Universität. Da müssen Sie ja ein kluges Persönchen sein.»
    Ruth versucht sich an einem geschmeichelten Lächeln. «Und Sie sind also Altphilologe?», fragt sie mit der nötigen Bewunderung.
    «Ich bin Römer.» Seine Augen glitzern. Ist das der Wahnsinn oder der graue Star? Zumindest aber setzt er sich jetzt Ruth gegenüber auf einen kleinen Hocker und lässt das Messer sinken. «Das ist mir schon in frühester Jugend klargeworden. Ich wurde in die falsche Zeit hineingeboren. Ich gehöre in die Epoche der Disziplin und Selbstachtung, des Rituals, des reinen Blutopfers. In die Epoche der alten Götter.»
    Die alten Götter. Ruth denkt an das Skelett unter der Türschwelle zurück, an die beiden Schädel im Brunnen, den schwarzen Hahn. Und an das Gefühl, dass das Haus an der Woolmarket Street einer früheren, dunkleren Zeit angehört.
    «Heutzutage», fährt Sir Roderick fort, «unternehme ich natürlich nicht mehr allzu viel. Ich bin Mitglied im Geschichtsverein und natürlich im Förderverein des Museums.»
    Das Museum. Ruth hört die Alarmglocken in ihrem Kopf und sieht in rascher Folge das Fötusmodell, das Kalb mit den zwei Köpfen und das schwarze Tuch vor sich, das ihr über den Kopf geworfen wurde. Gleichzeitig erkennt sie auch den Geruch nach Zitrone und Sandelholz – den Duft, den Sir Roderick Spens ganz dezent verströmt.
    «Mein Vater war ein bekannter Altphilologe», sagt er jetzt. «Christopher Spens. Sie haben sicher von ihm gehört?»
    Ruth hat das unbestimmte Gefühl, dass ein Nicken die beste Wahl ist.
    «Ein großer Mann. Und ein großer Schuldirektor. Er hat zahllose Bücher über das alte Rom verfasst, doch ihm wurde nie die Anerkennung gezollt, die er verdient hätte. Er starb als gebrochener Mann. Den Tod meiner Schwester hat er nie verwunden.»
    «Ihre Schwester ist tot?» Ruth erinnert sich, dass Nelson einmal von Annabelle Spens gesprochen hat. Ist das Kind unter der Türschwelle etwa Rodericks Schwester?
    «Ja. Sie hatte Scharlach. Und seither war nichts mehr, wie es sein sollte. Meine Mutter saß den ganzen Tag weinend in ihrem Zimmer. Mein Vater verbrachte jede wache Stunde in der Schule und schien nie nach Hause zurückzufinden. Er wusste, dass das Haus verflucht war. Deshalb musste ich auch das andere Kind töten. Um den Fluch wieder von uns zu nehmen.»
    Ruths ganzer Körper wird starr und eiskalt. «Was denn für ein Kind?», flüstert sie.
    «Mein Kind», antwortet Roderick unbekümmert. «Ich hatte bei einer der Dienstbotinnen gelegen. Ein dummes irisches Gänschen, aber doch recht hübsch.» Seine Stimme klingt ein wenig dumpfer.
    «Und sie bekam ein Kind?»
    «Ja, so ist das nun einmal.» Er mustert sie anzüglich. «Ich war ja selbst noch ein halbes Kind. Sie hat meine jugendlichen Triebe ausgenutzt. Sie gab vor, mich zu lieben. Armes Geschöpf. Aber ja, sie bekam ein Kind, ein Mädchen. Sie hat es Bernadette genannt, das kleine Ding.»
    Das Ding. Ruth spürt, wie ihr unwillkürlich die Tränen kommen. Das kleine Mädchen, das erstochen, enthauptet und unter der Türschwelle begraben wurde, war Sir Rodericks leibliche Tochter – und ist doch bis heute nur ein «Ding» für ihn.
    «Was wurde aus der Mutter?», fragt sie.
    «Ach, sie ist nach Irland zurückgekehrt. Ins Land der Heiligen und Gelehrten.» Wieder lässt er dieses markerschütternde Kichern hören. «Ich habe die Leiche im Garten verscharrt, doch als Vater den Torbogen und die Säulen errichten ließ, habe ich sie wieder ausgegraben und in

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