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Knochenhaus (German Edition)

Knochenhaus (German Edition)

Titel: Knochenhaus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elly Griffiths
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unterhalten sich in der Küche, vor Michelles pieksauberer Arbeitsfläche und der Korkpinnwand, die unter den vielen Einladungen, Einkaufslisten und Stundenplänen kaum noch zu sehen ist. Es scheint schier unmöglich, dass in dieses fröhliche Familienzimmer überhaupt etwas Böses eindringen kann, doch beide wissen, dass das längst geschehen ist: Sie spüren seinen Schatten bereits.
    «Ich war auch schon bei ihr zu Hause», sagt Cathbad. «Aber da ist sie nicht.»
    «Und in der Universität?»
    «Auch nichts. Ihr Büro ist abgeschlossen.»
    Nelson inspiziert Ruths Handy. Die letzte Nummer, die sie gewählt hat, ist seine. Er schaut auf sein eigenes Handy: sechs verpasste Anrufe von Judy Johnson, davor einer von Ruth Galloway.
    Er zuckt zusammen, als sein Handy erneut klingelt. Judy Johnson.
    «Johnson? Was gibt’s?»
    «Roderick Spens, Sir. Ich glaube, er ist der Vater.»
    «Wie bitte?»
    «Schwester Immaculata. Ich dachte, ihr Kind wäre von Christopher Spens, aber jetzt glaube ich, dass es von Roderick ist. Er muss etwa vierzehn oder fünfzehn gewesen sein, als das Kind gezeugt wurde. Und Orla … Schwester Immaculata … war zwanzig.»
    «Und hat sich mit einem Vierzehnjährigen eingelassen?»
    «Ich glaube, ja. Schwester Immaculata sagte, er hätte sie seine Jokaste genannt. Jokaste war die Mutter von Ödipus.»
    «Sie kennen sich ja ganz schön gut aus mit den Klassikern.»
    «Ich hab’s nachgeschlagen.»
    «Haben Sie Schwester Immaculata schon damit konfrontiert?»
    «Es geht ihr zu schlecht, um mit mir zu reden.»
    Nelson muss wieder daran denken, dass Doktor Patel meinte, Sir Roderick sei «auffallend klar im Kopf». Dann fällt ihm noch etwas ein: Als er die SMS von Ruth bekam, in der sie mitteilte, dass es ein Mädchen ist, und er sie gleich darauf zurückrief, war Sir Roderick gerade in sein Büro getapst und spielte den reizenden älteren Herrn.
    «Sind Sie noch dran, Sir?»
    «Ja. Gute Arbeit, Judy. Versuchen Sie weiter, an die Nonne heranzukommen. Ich rufe Sie später wieder an.»
    Er beendet das Gespräch. Cathbad beugt sich vor, und Nelson sieht in seinem Blick nicht mehr den versponnenen Druiden, sondern den Wissenschaftler – einen Mann, der, so seltsam das auch erscheint, keinen schlechten Polizisten abgegeben hätte.
    «Nelson», sagt er. «Ich glaube, Max Grey hat Ruth entführt.»

30. Juni
Tag der Aestas
Mit so etwas hatte ich nicht gerechnet. Sokrates mag den Dialog ja befürworten, doch ich bin da anderer Ansicht. Nichts schwebte mir weniger vor als eine nette Unterhaltung mit diesem Kind. Von allem anderen einmal abgesehen, war auch die Zeit knapp bemessen. Die Mädchen sollten mittags zurückkehren, und auch die Mutter konnte jeden Augenblick hereinkommen.
Dann hatte ich einen Geistesblitz. «Sei ruhig», sagte ich. «Ich habe eine Überraschung für dich.»
Ich beugte mich über das Bett. Ich hatte gehofft, sie würde wieder einschlafen, doch sie blieb wach. Ihre Augen standen weit offen, und sie sah mich an.
Doch immerhin gehorchte sie, legte sogar den Finger an die Lippen. Ich bin nun einmal zum Befehlen geboren. Und ich kann wohl auch ganz gut mit Kindern umgehen.
«Bleib ganz ruhig liegen», sagte ich. Dann zog ich das Messer aus der Tasche.
Ich hob das Messer, und sie lachte. Was für ein Sakrileg! Ich ließ das Messer wieder ein wenig sinken und sah sie an. Da fing sie an zu weinen.

[zur Inhaltsübersicht]
    32
    Als Ruth die Augen aufschlägt, ist es immer noch dunkel um sie. Erst hat sie gar keine Angst. Sie fühlt sich eigentlich nur schläfrig. Beruhigende Erinnerungen schaukeln ihr durch den Kopf: ein Picknick mit ihrer Mutter und ihrem Bruder im Castle Wood, Radio hören mit ihrem Vater, ein Bad im Meer, das Haar wie Seetang in den sanften Wellen, ein Nickerchen am Strand in der Sonne. Selbst als ihr klarwird, dass sie gefesselt auf einem schmalen Bett liegt, setzt die Angst nicht gleich ein. Die schönen Erinnerungen bleiben, ebenso wie das sanfte Schaukeln. Dann, wie um sie wachzurütteln, versetzt das Baby in ihrem Bauch ihr einen Tritt, und plötzlich ist Ruth hellwach und versucht sich aufzusetzen. Mit auf den Rücken gefesselten Händen ist das keine ganz leichte Aufgabe, doch sie schafft es. Gleich neben ihrem Kopf befindet sich ein kleines rundes Fenster, doch sie sieht nichts als Grau- und Grüntöne dahinter, die ineinanderfließen und sich wieder trennen wie die Farben eines Kaleidoskops. Das Ganze hat so viel von einem scheußlichen Traum, dass Ruth

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