Knochenhaus (German Edition)
Mädchen.
«Ich muss mir erst noch was anziehen», protestiert Laura.
Nelson verspürt einen Anfall von … ja, von was eigentlich? Ekel, Ärger, Trauer? Seine Tochter, sein Engel, war gerade im Begriff, mit diesem linkischen Lulatsch da oben Sex zu haben. Er hört, wie die Haustür ins Schloss fällt. Immerhin ist das Bürschchen jetzt weg und kommt hoffentlich nie wieder. Vielleicht war er ja gerade noch rechtzeitig gekommen, um die Unschuld seiner Tochter zu verteidigen. Dann denkt er: Was mache ich mir hier eigentlich vor? Natürlich war er alles andere als rechtzeitig da; er kommt Monate, vielleicht sogar Jahre zu spät.
«Wer war das?», fragt er.
«Lee», antwortet Laura mürrisch. Dann setzt sie hinzu: «Mum kennt ihn schon», als würde es das besser machen.
Nelson wird von neuen Schrecken heimgesucht. «Weiß deine Mutter etwa …?»
«Nein!» Lauras entsetzte Reaktion beruhigt ihn ein wenig. Immerhin hat sie noch so viel Anstand, ihr Liebesleben vor ihren Eltern zu verbergen. Und immerhin macht Michelle nicht hinter seinem Rücken gemeinsame Sache mit ihren Töchtern.
«Ich will, dass ihr beide hier unten bleibt», sagt er.
Rebecca scheint langsam klarzuwerden, dass sich hinter dem Verhalten ihres Vaters mehr verbergen könnte als die übliche elterliche Paranoia.
«Dad», fragt sie, «was ist los?»
«Nichts.» Nelson macht Anstalten, Judy zurückzurufen.
«Du hast eben gesagt, dass uns jemand bedroht.»
«Nur so ein Spinner.» Nelson bemüht sich um einen möglichst beruhigenden Ton. «Ihr braucht wirklich keine Angst zu haben, versprochen.»
Doch die Mädchen sehen jetzt beide zutiefst verängstigt aus. Sie kuscheln sich auf dem Sofa aneinander, und Rebecca schaltet reflexartig den Fernseher ein. Nelson will sie schon anfahren, die Kiste wieder auszumachen, doch dann denkt er sich, dass ihnen ein paar blödsinnige Musikvideos oder Fernsehserien vielleicht ganz guttun. Und Laura und Rebecca scheinen sich tatsächlich etwas zu entspannen, sobald auf dem Bildschirm ein paar lärmende junge Amerikaner erscheinen, die sich mit hochkomplizierten Handschlägen begrüßen.
Da klingelt es an der Haustür, und beide schreien auf.
«Das ist nur Cloughie», sagt Nelson und bellt dann: «Ihr bleibt hier!», womit alle Beruhigungsversuche wieder beim Teufel sind.
Doch es ist keineswegs Clough. Draußen steht Cathbad. Er trägt die Kleidung, die Nelson das «halbe Druiden-Outfit» nennt: Jeans und T-Shirt, darüber einen zerschlissenen lilafarbenen Umhang. Doch die Miene, mit der er Nelson am Arm fasst, zeigt, dass er gerade keine wie auch immer geartete Rolle spielt. Er blickt todernst drein.
«Nelson, ich glaube, Ruth ist etwas zugestoßen.»
Judy drückt ununterbrochen die Wahlwiederholungstaste, während sie durch die regengepeitschten Straßen von Southport rennt. Warum zum Teufel geht Nelson nicht ans Telefon? Die Passanten, vorwiegend Rentner und missmutige Touristen, drehen sich nach ihr um, als sie an ihnen vorbeirennt. Wahrscheinlich hat sich in den letzten fünfzig Jahren kein Mensch mehr so schnell durch Southport bewegt. Als sie das Kloster erreicht, ist sie ganz außer Atem, die Haare stehen ihr nach allen Seiten ab, und ein Finger drückt immer noch die Wahlwiederholung.
«Kann … ich … Schwester … Immaculata sprechen?»
«Es tut mir leid, aber das ist völlig ausgeschlossen.» Die Nonne am Empfang mustert Judy mit leicht vorwurfsvollem Blick. «Sie hat einen schweren Anfall erlitten. Der Arzt ist gerade bei ihr.»
«Dann warte ich», keucht Judy.
«Sie kann heute unmöglich noch weiteren Besuch empfangen.»
Erst versteht Nelson kaum, was Cathbad da zu ihm sagt. Doch dann greifen die Zahnrädchen in seinem Kopf langsam wieder ineinander, und ihm wird eiskalt am ganzen Körper. Ruth … seine Tochter. Ich werde deine Tochter töten. Weiß der Absender der Nachricht etwa, dass Ruth eine Tochter von Nelson erwartet? Er wird so bleich, dass Cathbad ihn besorgt mustert.
«Alles in Ordnung mit dir?»
«Was ist mit Ruth?»
«Wir waren an der Ausgrabungsstätte in Swaffham verabredet, aber als ich hinkam, war sie nirgends zu sehen. Und dann habe ich das hier in einem Graben gefunden.»
Er hält Ruths Handy hoch.
«Komm rein», sagt Nelson.
Die Mädchen sehen kaum auf, als der Mann im Umhang ihr Wohnzimmer durchquert. Sie sind jetzt ganz vertieft in irgendeinen Schwachsinn, der sich um eine amerikanische High School, laute Rockmusik und Vampire dreht. Nelson und Cathbad
Weitere Kostenlose Bücher