Knochenhaus (German Edition)
ein- bis zweihundert Jahre stattgefunden hat. Der unruhige Boden unterhalb der Türschwelle deutet darauf hin, dass die Leiche dort begraben worden sein muss, bevor die Tür angebracht wurde. Wie lange war das Kinderheim dort? Sie wird Nelson bitten müssen, sich die Eigentümerurkunde und die Bauunterlagen anzusehen.
Als Ruth die Abzweigung nach Swaffham passiert, biegt sie in einem spontanen Impuls scharf ab und erntet dafür wütendes Hupen aus dem Wagen hinter sich. Sie hat beschlossen, bei der römischen Ausgrabungsstätte vorbeizuschauen und sich mit Max zu unterhalten. Und wenn es nur dafür gut ist, nach dem langen Tag am Steuer noch ein bisschen draußen zu sein. Der Nieselregen, der den ganzen Tag gefallen ist, hat nachgelassen, und oben auf dem Hügel ist die Luft bestimmt frisch und rein.
Zu Ruths Erstaunen parkt am Fuß des grasbewachsenen Hanges ein Reisebus in recht ungünstiger Position. Der Fahrer sitzt noch am Steuer, verzehrt ein Sandwich und blättert in der Sun . Als Ruth ihren Renault neben ihm abstellt, sieht sie ein Grüppchen älterer Leute den Hügel herunterkommen. Sie tragen Tweed- und Regenkleidung, manche haben Reiseführer in der Hand. Es geht steil bergab, und ein Teil der Gruppe muss sich mit angestrengtem Keuchen auf Spazierstöcke stützen, während andere mit geradezu jugendlichem Elan den Hang hinabspurten. Ganz hinten entdeckt Ruth Max, der einer stämmigen grauhaarigen Dame den Arm geboten hat. Ein paar der älteren Herrschaften lächeln Ruth an und winken ihr zu, und sie winkt zurück, obwohl sie keine Ahnung hat, wer diese Leute sind. Immerhin sind sie freundlich. Als alle im Bus sitzen, faltet der Fahrer seine Zeitung zusammen, und die Räder graben sich langsam in den matschigen Untergrund. Max winkt dem Bus eifrig hinterher, bis er außer Sichtweite ist.
«Hallo, Max!»
Er zuckt zusammen. «Ruth! Ich habe Sie gar nicht gesehen.»
«Was war denn das für Besuch?»
Er verzieht das Gesicht. «Die Seniorengruppe der Konservativen.» Sofort bereut Ruth, ihnen zugewinkt zu haben. «Wir kriegen hier ziemlich viel Besuch. Vorhin waren die Pfadfinder da.»
«Mein Gott! Zwei paramilitärische Organisationen an einem Tag!»
Max grinst. «Am meisten Angst machen mir ja die Alten. Haben Sie die Frau gesehen, die sich bei mir eingehängt hatte? Die sah doch aus wie Kaiser Vespasian.»
Ruth muss lachen. «Ich wollte mich eigentlich auch ein bisschen umsehen, aber falls Sie heute schon genug den Fremdenführer gespielt haben …»
«Nein, nein.» Sein Eifer schmeichelt ihr. «Ich führe Sie gern noch etwas herum. Wir haben heute auch eine ganz interessante Entdeckung gemacht.»
Sie steigen den Hang hinauf, und Ruth versucht, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie dabei aus der Puste kommt. Herrje, wenn sie so weitermacht, wird sie sich im neunten Monat überhaupt nicht mehr bewegen können. Dummerweise war sie ja schon vorher nicht gerade in Topform.
Oben angekommen, eilt Max gleich weiter, auf den hintersten Graben zu. Ruth folgt ihm langsamer. Er war offensichtlich keineswegs untätig, obwohl seine Studenten noch gar nicht eingetroffen sind. Auf dem Kamm des Hügels befinden sich jetzt drei Gräben, die wie die Speichen eines Rades angeordnet sind. Der hinterste Graben ist der tiefste, und als Ruth näher kommt, erkennt sie die einzelnen Bodenschichten: den Mutterboden, darunter die verräterische Kalkschicht, die darauf hinweist, dass früher, vor Tausenden von Jahren, die ganze Gegend hier überschwemmt war. Durch die Kalkschicht zieht sich eine Mauer, ein Gemisch aus Feuersteinen und Mörtel und einer dünnen Schicht Backstein, der eindeutig römischen Ursprungs ist. Unterhalb dieser Backsteinschicht schimmert eine silbergraue Halbkugel sanft im Abendlicht.
«Ein Schädel?»
«Ja. Mehr kann man im Augenblick noch nicht erkennen.»
«Glauben Sie, es handelt sich um ein Fundamentopfer?»
«Genau das glaube ich.» Max deutet auf die Steinschicht. «Ich vermute, dass das hier eine Zimmerecke ist, was durchaus bedeutsam wäre. Denken Sie an die Kinderleichen von Springfield. Die waren an allen vier Ecken des Tempels begraben.»
«Heißt das, hier war ein Tempel?» Ruth lässt den Blick über den Graben wandern, mit seinen ordentlichen Erdwällen unter dem freien Himmel, und sieht vor ihrem inneren Archäologenauge einen steinernen Tempel mit Götterstatuen, einem Altar und Weihrauchschwaden.
«Es wäre zumindest eine Möglichkeit. Wir haben Tonscherben gefunden, die
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