Knochenhaus (German Edition)
zu Amphoren gehören könnten. Aber möglicherweise war es auch ein Privathaus.»
Ruth weiß, dass es in allen römischen Häusern kleine Altäre für die Hausgötter gab. Das Familienoberhaupt – der pater familias – war im Grunde nichts anderes als der Hohepriester seiner eigenen Privatreligion. Und im Herd, dem symbolischen Mittelpunkt des Heims, flackerte stets ein Feuer zu Ehren der entsprechenden Göttin. Wie hieß sie noch gleich?
«Vesta», hilft Max ihr auf die Sprünge. «Sie brauchen nur an die Streichholzmarke zu denken. Ihr griechischer Name lautet Hestia. Die Frauen im Haus hatten dafür zu sorgen, dass das Feuer niemals ausgeht. Sie brachten ihr auch Opfer dar.»
«Kam es nicht auch vor, dass Tote in römischen Wohnhäusern beigesetzt wurden?», erkundigt sich Ruth.
«In frührömischer Zeit war es sogar an der Tagesordnung, dass tote Familienmitglieder zu Hause beigesetzt wurden», antwortet Max. «Oft findet man im Umkreis solcher Gräber die Initialen DM. Das steht für Dii Manes – die Geister der Toten oder auch ‹die Guten›.»
Ruth fröstelt, als ihr die kleine Leiche unter der Türschwelle in der Woolmarket Street wieder einfällt. Die Guten. Auch Kinder sind nach allgemeiner Ansicht gut und unschuldig noch dazu. Und doch scheint das niemanden davon abzuhalten, ihnen grauenvolle Dinge anzutun.
«Man hat auch Kinderleichen gefunden, oder?», fragt sie.
«Ja. In Cambridge wurden in den Siebzigern zwölf Neugeborene unter einem römischen Haus entdeckt. Wir wissen nicht, ob sie eines natürlichen Todes gestorben sind, vielleicht sogar tot geboren wurden, oder ob man sie geopfert hat.»
«Die Feldarchäologen haben gerade eine Leiche auf einem Baugrundstück in Norwich gefunden», sagt Ruth zögernd. «Soweit ich feststellen konnte, hat sie keinen Kopf.»
Max sieht sie interessiert an. «Ist sie zeitgenössisch?»
«Das weiß ich noch nicht. Die Radiokarbondatierung steht noch aus. Aber der Grabstich wirkt vergleichsweise neu.»
«Trotzdem können die Knochen noch alt sein.»
«Stimmt», pflichtet Ruth ihm bei. «Aber das Skelett sieht intakt aus. Ich vermute, es wurde dort begraben, bevor die Türschwelle angebracht wurde.»
«Und wann war das?»
«Nun ja, es ist ein viktorianisches Haus, aber die Eingangstür und der Portikus können gut auch später dazugekommen sein. Es war einmal ein Kinderheim.»
Als sie an das Kinderheim denkt, fällt ihr noch etwas anderes ein. Sie zieht ihr Notizbuch aus der Tasche. «Können Sie mir sagen, was das heißt?», fragt sie. «Es ist eine Inschrift von dem Grundstück.»
Max liest die Worte, die sie abgeschrieben hat, und einen Augenblick lang verdüstert sich seine Miene. Ruth überlegt, ob sie ihn irgendwie gekränkt hat. «Ich verstehe es selbst nicht ganz», erklärt sie nervös. «Dazu war ich wohl nicht auf der richtigen Schule.»
«Omnia mutantur, nihil interit.» Max liest die Worte zögernd ab. «Das bedeutet: Alles verändert sich, nichts vergeht.»
«Oh … vielen Dank. Sie hatten also Latein auf der Schule?» Ruth findet, dass er durchaus nach Privatschule aussieht. Vielleicht liegt das ja an den Locken. Oder am Range Rover.
Max lächelt und wirkt wieder genau so charmant und lässig wie zuvor. «Nein, aber im Lauf der Jahre habe ich es mir dann doch angeeignet. Die alten Römer sind schließlich mein Spezialgebiet.»
«Alles verändert sich, nichts vergeht», wiederholt Ruth. «Was ist denn das für ein eigentümliches Motto?»
«Das perfekte Motto für Archäologen», sagt Max und klettert wieder aus dem Graben.
Nelson steuert seinen Wagen zurück zum Polizeirevier und versucht, nicht weiter auf Clough zu achten, der neben ihm geräuschvoll eine Tüte Chips leert. Wenn sie zu Ermittlungen außerhalb unterwegs sind, mampft Clough praktisch ununterbrochen: Chips, Süßigkeiten, Unmengen von Fastfood. Eigentlich erstaunlich, denkt Nelson säuerlich, dass er noch keine Tonne ist. Wenn man ehrlich ist, hat Clough sogar weniger Bauch als er. Es gibt eben keine Gerechtigkeit auf der Welt.
«Glauben Sie, es war Mord?», fragt Clough mit vollem Mund. Nelson wird ganz schlecht von dem Käse-Zwiebel-Geruch. Vielleicht leide ich ja unter Morgenübelkeit, denkt er. Als Michelle schwanger war, hatte er beide Male mit psychosomatischen Beschwerden zu tun. Aber Ruth ist ja vielleicht gar nicht schwanger, und falls doch, ist das Kind womöglich gar nicht von ihm.
«Keine Ahnung», antwortet er knapp. «Und Sie hatten übrigens
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