Knochenhaus (German Edition)
Schnittspuren unter dem Mikroskop begutachtet, kommt sie zu dem Schluss, dass die Enthauptung nach Eintritt des Todes durchgeführt worden sein muss. Sie weisen klar auf einen Schnitt von vorn hin. Wäre das Tier noch am Leben gewesen, hätte das heftige Blutungen verursacht, weil die Gurgel dabei durchtrennt wird. Es erscheint sehr viel wahrscheinlicher, dass die Katze zuerst getötet und anschließend enthauptet wurde.
Aber warum? Ruth hat zahllose Theorien, doch keine davon erscheint ihr plausibel. Bei den sogenannten keltischen Kopfkulten wurde der Kopf häufig abgetrennt, um religiöse oder magische Rituale damit durchzuführen. Und es hat ja durchaus etwas Rituelles, zwei Schädel in einem Brunnen zu deponieren. Stammen sie also doch aus keltischer Zeit? Nein, das glaubt sie einfach nicht.
Draußen wird es langsam dunkel, und die Party nimmt Fahrt auf. Ruth hört Türen schlagen, die Schritte von Studenten, die auf der Suche nach leerstehenden Räumen, wo sie Sex haben oder Drogen nehmen können, durch die Flure eilen. Solange nur keiner zu ihr hereinkommt. Sie hat das blaue Lämpchen eingeschaltet, das auf «sterile Kautelen» hinweist. Das wird sie hoffentlich abhalten. Ruth kann sich kaum vorstellen, dass sich einer dieser Feiernden als sonderlich steril betrachtet.
Ihr Rücken schmerzt, sie zieht die Handschuhe aus und setzt sich, um ein Glas Wasser zu trinken. Als sie den kleinen Schädel da auf dem Untersuchungstisch liegen sieht, verspürt sie plötzlich eine unerklärliche Trauer. Sie weiß, dass das tote Kind sehr viel wichtiger ist als die Katze. Das Tier ist nur ein Hinweis, eine Kuriosität, ein leicht makaberes Detail. Und trotzdem verspürt Ruth beim Anblick der zarten, kleinen Knochen tiefes Mitgefühl. Anfang des Jahres hat sie ihre geliebte Katze Sparky verloren und vermisst sie immer noch. Auch diese Katze wurde sicher einmal geliebt. Sie schickt eine Botschaft durch die Zeit zurück: «Es tut mir leid. Es tut mir so leid, was wir Menschen Tieren alles antun.» Natürlich ist ihr klar, dass auch hier, an dieser Universität, tagtäglich Tierversuche durchgeführt werden – ein-, zweimal im Jahr laufen die Tierschützer Sturm dagegen, und die Sicherheitsvorkehrungen werden verschärft –, doch das erscheint ihr im Großen und Ganzen als notwendiges Übel zum Wohl der Allgemeinheit. Aber das hier … das ist etwas völlig anderes.
Wurde diese Katze geopfert? Oder war sie ein Übungsobjekt? Erst einmal ein Tier töten, um sich langsam an die entsetzliche Tat des Kindesmordes anzunähern? Was hat Max noch gleich gesagt? Traditionell opfert man der Hekate schwarze Tiere.
Kurz entschlossen geht Ruth zu dem Karton hinüber, der die übrigen Beweisbeutel vom Ausgrabungsort enthält. Boden- und Vegetationsproben, die analysiert werden sollen, Splitter von Steinen und Ziegeln … ja, da ist er. Sie zieht den Klarsichtbeutel mit dem römischen Siegelring hervor und lässt den Ring vorsichtig auf die flache Hand gleiten. Auf dem handgeschriebenen Etikett steht: «Gravierter Bronze-Ring, vermutl. römischen Urspr.» Das Muster ist schwer zu erkennen: drei einander überlappende Kreise. «Sieht aus wie ein Kleeblatt», hat Ted der Ire naheliegenderweise vermutet. Doch als Ruth den Ring jetzt unter das Mikroskop hält, sieht sie, dass die drei Kreise eigentlich drei Köpfe sind.
Hekate. Die Göttin mit den drei Gesichtern.
13. Juni
Iden
Ich bin Agamemnon. Ich bin Herr im Haus. Magister mundi sum. Die Verantwortung ruht nun auf mir, und selbstverständlich obliegen mir als Herrn auch bestimmte Pflichten. Hat Agamemnon das Opfer, das ihm abverlangt wurde, etwa gern gebracht? O nein. Und dennoch tat er es. Manchmal muss man eben tun, was getan werden muss. Es ist ein einsames Dasein als Herr im Haus, und ich wäre kein Mensch, wenn ich mir nicht hin und wieder wünschte, es wäre alles so wie früher und ich müsste diese Tat nicht ausführen. Doch es gilt, die Götter zu besänftigen. Niemand sonst begreift das. Agamemnon musste die Winde besänftigen, um gen Troja zu ziehen. Und ich muss unsere Mauern wieder sicher machen. Am Ende läuft beides auf das Gleiche hinaus.
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Der Kriminalpathologe ist noch jung und geradezu beängstigend energiegeladen. Er heißt Chris Stevenson, und Ruth kennt ihn bisher nur vom Sehen. Seinen Vorgänger kannte sie besser, einen reizenden Herrn alter Schule, der immer mit Fliege und Samtslippern zur Arbeit erschien. Stevenson dagegen
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