Knochenhaus (German Edition)
jungen Datums sein muss: Obwohl es angeblich schon im alten China Zahnfüllungen gab, sind sie doch erst seit etwa hundert Jahren allgemein verbreitet. Zudem sind Plomben bei so kleinen Kindern eher selten. Die Zusammensetzung wird wertvolle Rückschlüsse auf das Alter der Knochen zulassen.
Ruth beugt sich vor.
«Haben Sie einen Kommentar zu der Plombe, Doktor Galloway?»
«Ich würde sie gern von einer forensischen Zahnspezialistin begutachten lassen.»
«Haben Sie da jemand Bestimmtes im Auge?»
«Ja.»
Die Untersuchung ist fast beendet. Stevenson entnimmt Proben zur C-14-Datierung, und Ruth vervollständigt ihren Skelett-Spickzettel: postkraniale Maße, pathologische Erkenntnisse, Schlussfolgerungen … Ihr Rücken schmerzt vom langen Stehen, doch sie hat keine Lust, um einen Stuhl zu bitten und sich damit Stevensons Spott und Nelsons Misstrauen zuzuziehen. Ob er etwas ahnt? Den Gedanken darf sie sich nicht mal erlauben.
«Wollen wir wetten, wie alt das Skelett ist?», fragt Stevenson. «Auf fünf Jahre plus oder minus?»
«Nein.»
«Na gut, dann nicht. Ich entnehme noch ein paar Proben für die DNA-Analyse.»
«Kriegen Sie da überhaupt noch DNA raus?» Nelson mustert die vertrockneten Knochen skeptisch.
«Vielleicht», sagt Ruth. «Langes Ruhen in der Erde kann das DNA-Material allerdings tatsächlich schädigen. Möglicherweise sind die Proben nicht gut genug.»
«Das sind sie bestimmt», sagt Stevenson. «Also dann, Freunde. Die Show ist vorbei.»
Im Vorraum zieht Ruth ihren Kittel aus und wäscht sich gründlich die Hände. Obwohl bei dieser Obduktion kein Blut im Spiel war, fühlt sie sich seltsam dreckig und ein wenig unwohl. Vielleicht hatte sie aber auch einfach nur eine Überdosis Chris Stevenson.
Nelson steckt den Kopf zur Tür herein. «Mann, bin ich froh, dass wir das hinter uns haben. Der Typ ist echt das Letzte. Hast du noch Lust auf einen Kaffee?»
Ruth zögert kurz. Obwohl ihr allein beim Gedanken an Kaffee schlecht wird, würde sie sich doch zu gern mit Nelson in ein gemütliches Café setzen. Aber sie hat an diesem Vormittag noch etwas anderes vor.
«Tut mir leid», sagt sie. «Ich habe noch einen Termin.»
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15
«Sind Sie allein?»
Diese Frage ist so ungeheuer vielschichtig, dass Ruth im ersten Moment gar nicht weiß, was sie antworten soll. Natürlich ist sie gerade offensichtlich allein, weil sie ohne Begleitung im Krankenhaus erschienen ist. Aber sie ist auch gleich doppelt allein, weil der Vater ihres Kindes nicht einmal weiß, dass sie schwanger ist. Sie denkt an Nelson, wie sie ihn vorhin bei der Obduktion erlebt hat, versucht sich vorzustellen, wie er ihr zärtlich und hingebungsvoll zur Seite steht. Nein, das funktioniert einfach nicht. Selbst wenn Nelson Bescheid wüsste, selbst wenn sie auf irgendeine undenkbare Weise mit ihm zusammen wäre, würde er doch noch ständig auf die Uhr schauen und so schnell wie möglich aufs Revier zurückwollen. Und ihre Mutter? Sie versucht sich auszumalen, wie ihre Mutter ihr lächelnd und liebevoll Ratschläge gibt, ihr gut zuredet, sie ermahnt, sich nicht zu überanstrengen und Ingwerkekse gegen die Übelkeit zu essen. Nein, das ist noch abwegiger. Shona vielleicht? Sie würde ständig mit ihren Haaren spielen und den Ärzten schöne Augen machen. Seltsamerweise ist ausgerechnet Cathbad der einzige Mensch, den sie sich tatsächlich an ihrer Seite vorstellen kann. Er wäre zumindest verständnisvoll, auch wenn er mit seinem lila Umhang vielleicht ein bisschen unangenehm auffallen würde.
«Ja. Ich bin allein.»
Die Krankenschwester führt Ruth in ein Zimmer mit einem Bett und einem Apparat, der an einen Fernseher erinnert. Dort wartet eine weitere Frau, die lässig Kaugummi kaut. Ruth fühlt sich unangenehm in den Obduktionssaal zurückversetzt – nur liegt diesmal sie als Leiche auf dem Sektionstisch. Sei nicht so makaber, ruft sie sich zur Ordnung. Das hier ist reine Routine. Aber die Obduktion doch auch, beharrt die Stimme in ihrem Kopf.
Die Schwester fordert Ruth auf, ihre Hose zu öffnen, und verreibt dann Gel auf ihrem Bauch. Ruth zuckt zusammen. Sie lässt sich nur äußerst ungern an den Bauch fassen und meidet Massagen und Schönheitsbehandlungen wie der Teufel das Weihwasser. «Jetzt entspannen Sie sich doch!», wurde sie einmal von einer Masseurin angefaucht. Ruth weiß, dass sie damit ziemlich allein steht, doch für sie ist es nun mal alles andere als entspannend, sich von einer
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