Knochenhaus (German Edition)
wildfremden Person mit manikürten Fingernägeln die Schultern massieren zu lassen und sich dabei Anekdoten aus dem letzten Urlaub anzuhören.
Jetzt drückt die andere Frau, die anscheinend für die Technik zuständig ist, etwas auf ihren Bauch, das wie das Ende eines Hörrohrs aussieht. Sie drückt ziemlich fest. Ruth hat die Anweisung bekommen, mit voller Blase zur Ultraschalluntersuchung zu kommen, und das Druckgefühl ist ausgesprochen unangenehm. Einen Moment lang glaubt sie, sofort aufspringen und die nächste Damentoilette ansteuern zu müssen. Doch dann erscheinen plötzlich fedrige graue Wolken auf dem Bildschirm. Und inmitten dieser Wolken bewegt sich etwas.
Ruth hat bereits viele Ultraschallbilder gesehen, hauptsächlich von Knochen und anderen archäologischen Funden. Sie weiß, dass bei dieser Methode Hochfrequenzschallwellen von einer festen Oberfläche abprallen. Sie weiß, wie man die Abstufungen von Licht und Schatten zu deuten hat, wie Dichte und Struktur zu bewerten sind. Aber das … das ist völlig anders. Diese Ansammlung dunkler Kreise, die sich da langsam auf dem Bildschirm bewegt, ist ganz und gar unfassbar und plötzlich gleichzeitig ganz und gar real. Das ist ihr Baby.
«Hier ist das Herz», sagt die medizinisch-technische Assistentin, die bis dahin geschwiegen hat, und schiebt dabei ihren Kaugummi in die Backentasche. Sie deutet auf vier schwarze, pulsierende Kreise. «Und da ist die Wirbelsäule.» Ruth erkennt eine schmale weiße Linie, die sich auf dem Bildschirm bewegt. Aus unerfindlichen Gründen hat sie plötzlich Tränen in den Augen. Dann fällt ihr etwas ein.
«Können Sie sehen, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist?»
«Bei dieser Untersuchung noch nicht. Aber das sehen wir wahrscheinlich bei der nächsten, etwa in der zwanzigsten Woche.»
Doch während Ruth noch mit feuchten Augen auf den Bildschirm schaut, ist sie selbst überzeugt, dass es ein Junge sein muss. Diese kleine Gestalt, die da in ihrem Bauch herumschwimmt, strahlt etwas Männliches, fast Draufgängerisches aus. Die Frau deutet jetzt auf einen anderen Teil des Bildschirms. «Auffallend lange Beine. Hat Ihr Partner lange Beine?»
Hat Nelson lange Beine? Ruth sieht ihn vor sich, wie er von einem Ort zum anderen eilt, voller Ungeduld, stets begierig auf die nächste Herausforderung. Groß ist er ja, wahrscheinlich hat er also auch lange Beine. Zumindest längere als Ruth. Zum ersten Mal wird ihr richtig klar, dass dieses Baby zur Hälfte seines ist. Bisher hat sie es immer als ihr Eigentum betrachtet, als das Einzige sogar, was nur ihr allein gehört. Dabei gehört es ihr gar nicht. Einen Moment lang kommt ihr der Umriss auf dem Bildschirm völlig fremd vor: ein Junge, ein kleiner Nelson. Sie schließt die Augen.
«Alles in Ordnung mit Ihnen?»
«Ja … Mir ist nur ein wenig übel.»
«Das ist normal, das passiert oft. Wir sind auch fertig.» Sie reicht Ruth ein paar kratzige Papiertücher, damit sie sich den Bauch abwischen kann, und Ruth richtet sich langsam auf.
«Ich drucke Ihnen noch ein Bild für zu Hause aus.»
«Ein Bild?» Ruth sieht sie verständnislos an.
«Ein Bild von dem Baby! Damit Sie es Ihrem Partner zeigen können.»
«Ach so, ja. Vielen Dank.»
Als Ruth langsam zur Universität zurückfährt, fällt ihr auf, dass sie plötzlich so umsichtig in den Rückspiegel schaut und den Blinker setzt, wie sie es seit der Fahrprüfung nicht mehr getan hat. Sie hält sich streng an die Zwei-Sekunden-Regel, und als sie einen Radfahrer überholt, fährt sie so langsam, dass der Fahrer hinter ihr ungeduldig auf die Hupe drückt. Ihr ist klar, dass sie fährt wie eine alte Dame mit Strohhut, doch sie kann einfach nicht anders. Sie ist ganz erfüllt von dem überwältigenden Wissen, dass sie einen anderen Menschen in sich trägt, noch dazu einen Menschen mit einer ganz eigenen Persönlichkeit und den langen Beinen seines Vaters. Sie ist sein Fahrzeug, muss ihn unfallfrei von A nach B befördern und aufpassen, dass sie alles richtig macht und nicht in einen entgegenkommenden Laster fährt. Wie soll sie diese neunmonatige Fahrt bloß überstehen, ohne auch nur einmal die Geschwindigkeit zu übertreten oder an einer Raststätte am Straßenrand anzuhalten? Vielleicht wird sie sich ja mit der Zeit daran gewöhnen …
Für die Studenten sind bereits die Ferien angebrochen. Ruth sieht sie überall: Sie laden Koffer ins Auto, verabschieden sich tränenreich vor der Haustür oder kritzeln sich gegenseitig
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