Knochenhaus (German Edition)

federt auf luftgepolsterten amerikanischen Turnschuhen in den Obduktionssaal, im wehenden weißen Kittel. Mit der alten Schule scheint es unwiderruflich vorbei zu sein.
    «Doktor Galloway! Sind Sie hier, um uns mit Ihrer Expertenmeinung zu beglücken?»
    «Ich werde mein Bestes tun», entgegnet Ruth säuerlich.
    Sie weiß, dass diese Obduktion ein Kampf werden wird. Bei jeder anderen Autopsie wäre Stevenson der Experte. Er pflegt extravagante Praktiken, entfernt die Organe beispielsweise am liebsten en bloc statt in vier Tranchen, wie es üblich ist. Nelson hat von einer Autopsie berichtet, bei der Stevenson so ausdrucksvoll mit dem Skalpell hantiert haben muss, dass zwei Polizeianwärter in Ohnmacht gefallen sind. Außerdem redet er bei der Arbeit ununterbrochen, sondert einen kontinuierlichen Redefluss aus Informationen, Beobachtungen und freien Assoziationen ab wie ein Slam-Poet – mit dem einen Unterschied, dass es bei ihm ausschließlich um Blut, Innereien und Operationsschnitte geht. Nelson kann ihn offensichtlich nicht ausstehen.
    Heute aber haben sie nur Knochen vor sich – trockene, akademische Knochen. Es besteht kein Bedarf an Schnitten, Sägemanövern oder theatralischen Gesten. Und die Expertin ist Ruth. Stevenson wird die Untersuchung zwar leiten, sich aber in jeder Hinsicht ihren Anweisungen fügen müssen. Kein Wunder also, dass sein fröhlicher Dauerkommentar an diesem Morgen ein wenig gezwungen klingt. Ruth ihrerseits schweigt. Sie betrachtet die Knochen, die bereits auf dem Sektionstisch liegen. So ein kleines Skelett. So ein kleines Leben.
    Nelson verspätet sich und erntet dafür ein humoriges «Schön, dass Sie auch noch hergefunden haben!» von Stevenson.
    «Machen Sie mal lieber voran», brummt Nelson. Er wirkt fremd im Chirurgenkittel, mit der Plastikhaube über dem dunklen Haar. Mit Sicherheit die unvorteilhafteste Kleidung der Welt, denkt Ruth in dem Bewusstsein, dass sie selbst darin aussehen muss wie ein großer grüner Fesselballon.
    Ein Labortechniker fotografiert die anatomisch korrekt angeordneten Knochen, dann beginnt Stevenson mit der Untersuchung und bellt seine Anmerkungen in ein Diktiergerät. Ruth steht auf der anderen Seite des Edelstahltisches und nimmt jeden Knochen von Stevenson entgegen, sobald er damit fertig ist. Hin und wieder fügt sie einen eigenen Kommentar hinzu. Nelson steht hinter Ruth und tritt ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.
    «… Epiphysen noch im Wachstum begriffen … Knorpelschicht noch unverknöchert … die Größe der Röhrenknochen weist auf ein Kind hin … Männlich oder weiblich, was meinen Sie, Doktor Galloway?»
    Ruth betrachtet die Beckenknochen. Das weibliche Becken ist flacher und breiter als das männliche, doch bei einem vorpubertären Skelett ist dieser Unterschied noch nicht zu erkennen. Sie untersucht den Sitzbeinausschnitt, der bei Männern kürzer und tiefer ist. Auch das ist bei Kindern kaum zu erkennen.
    «Weiblich, würde ich sagen.»
    «Tatsächlich? Ist ja interessant.» Ruth schließt aus der Bemerkung, dass Stevenson anderer Ansicht ist.
    « … Verletzungsspuren am Brustbein und am dritten Rippenknochen … Wofür halten Sie das, Doktor Galloway?»
    «Sieht nach einem Messerstich aus.»
    «Die Dame votiert für Messer. Wir werden sehen …»
    Stevenson wendet sich dem Schädel zu. «Äußerliche Verletzung der Halswirbelsäule …»
    Eine Axt, denkt Ruth. Der Kopf wurde mit einem axtähnlichen Werkzeug abgetrennt, und zwar von vorn, wie bei der Katze.
    «Todesursache: Enthauptung?», schlägt Stevenson vor.
    «Poena post mortem» , erwidert Ruth knapp und dreht sich dann zu Nelson um. «Verstümmelung nach Eintritt des Todes. Der Kopf wurde später abgetrennt. Der Schnitt wurde von vorn ausgeführt, während eine Enthauptung zu Tötungszwecken eigentlich immer von hinten erfolgt.»
    Stevenson grunzt ungläubig. «Interessante Theorie. Was meinen Sie dazu, Detective Chief Inspector?»
    «Mit dem Messer in die Brust gestochen und enthauptet. Eins steht fest: Das war unter Garantie kein Selbstmord.»
    Stevenson lacht und widmet sich dann wieder dem Schädel. «Kein Durchbruch bleibender Zähne …» Ruth dreht sich wieder zu Nelson um. Keine bleibenden Zähne, das bedeutet, dass der Schädel mit ziemlicher Sicherheit von einem Kind unter sechs Jahren stammen muss. «Füllung an der Kaufläche des ersten Backenzahns unten links …»
    Das ist allerdings interessant. Zum einen beweist es, dass die Leiche relativ