Knochenhaus (German Edition)
abzufinden, dass Max Grey eigentlich Martin Black ist. Wie kann ein Mensch das alles erlebt haben und am Ende doch normal und lebenstüchtig daraus hervorgehen? Soweit sie sich überhaupt Gedanken über Max’ Kindheit gemacht hat, stellte sie sich ein gutbürgerliches Elternhaus vor, eine Privatschule, vielleicht sogar mit humanistischem Zweig, einen ganz selbstverständlichen Wechsel auf die Universität und lauter entsprechende Freundschaften und Beziehungen. Alles – nur kein Kinderheim, keine tote kleine Schwester, kein Landstreicherdasein und keine Zeit bei den Zigeunern. Das hört sich viel zu sehr nach Emily Brontës Sturmhöhe an. Aber wenn man es recht bedenkt, hat Max durchaus einiges von Heathcliff an sich.
Ruth setzt sich an den Tisch vor dem Fenster. Der Morgen ist trüb, das graue Moor verschmilzt übergangslos mit dem grauen Himmel. Sie schaltet ihr Notebook ein, doch nachdem sie eine Minute lang dumpf auf ihr Vorlesungsskript gestarrt hat, klappt sie es wieder zu. Aus einer Schublade nimmt sie ein wunderbar jungfräuliches Blatt Papier. Zu den wenigen Dingen, die sie mit Nelson gemeinsam hat, gehört eine Vorliebe für Listen. Und so schreibt Ruth Woolmarket Street als Überschrift auf das Blatt und listet dann alle Personen auf, von denen sie weiß, dass sie irgendetwas mit dem Grundstück zu tun haben.
Kinderheim
Pater Hennessey
Max Grey (Sie betrachtet den Namen einen Augenblick lang, streicht ihn dann wieder durch und schreibt stattdessen: Martin Black. )
Kevin Davies, Bestatter
Weitere ehemalige Bewohner
Mitarbeiter (Max hat eine Schwester James erwähnt, und Ruth weiß, dass Judy kürzlich in Southport war, um mit einer weiteren Nonne zu reden.)
Baugrundstück
Edward Spens
Polier und weitere Bauarbeiter
Ted
Trace
Ruth betrachtet die Liste so lange und eingehend, dass Flint eifersüchtig wird und versucht, sich auf das Blatt zu setzen. Ruth schiebt ihn beiseite. Theoretisch kann jeder Einzelne von dieser Liste das zweiköpfige Kalb vor ihre Tür gelegt, das Baby im Graben platziert und ihren Namen an die römische Mauer geschrieben haben. Doch sie muss der Tatsache ins Auge sehen, dass Max unter all den Namen der plausibelste Kandidat ist. Er kennt sich mit römischen Ritualen aus und hat ihr die Geschichte von Ich, Claudius erzählt. Und außerdem verfügt er über die nötigen Mittel und Gelegenheiten. Er war zur Stelle, nachdem sie die Schrift an der Mauer entdeckt hatte. Er hat sie im Graben gefunden, als sie ohnmächtig geworden ist. Was, wenn er schon die ganze Zeit auf der Lauer lag? Wenn er das Baby selbst in den Graben gelegt hat? Schließlich hatte sie ihm noch am Abend zuvor von ihrer Schwangerschaft erzählt. Als Archäologe hat er freien Zugang zum Museum; es dürfte ihm also nicht weiter schwergefallen sein, das zweiköpfige Kalb und auch das Baby zu entwenden.
Aber warum? Warum sollte Max ihr Angst einjagen, sie zu Tode ängstigen wollen, wie er das selbst formuliert hat? Wollte er sie von dem Grundstück an der Woolmarket Street vertreiben? Wollte er verhindern, dass sie herausfindet, wer er in Wahrheit ist? Oder birgt das einstige Kinderheim vielleicht noch ein anderes Geheimnis?
Ruth schaut erneut auf ihre Liste. Wenn die Leiche unter der Tür tatsächlich schon vor fünfzig Jahren ermordet wurde, gibt es unter den Namen nur einen, der damals bereits auf der Welt war: Pater Patrick Hennessey. Womöglich auch andere Nonnen oder Mitarbeiter, doch Pater Hennessey ist der Einzige, von dem Ruth weiß. Falls es also ein Geheimnis gibt, muss er es kennen. Kennen Priester nicht immer alle Geheimnisse? Ist das nicht der einzige Zweck der katholischen Beichte?
Als sie sich auf dem Baugrundstück begegnet sind, hat Pater Hennessey ihr seine Visitenkarte gegeben. Ruth fand es in dem Moment amüsant, dass ein Priester etwas so Weltliches wie eine Visitenkarte besitzt. In dezenter grauer Schrift steht sein Name darauf: Pater Patrick Hennessey, SJ. Ruth hat keine Ahnung, wofür die Abkürzung SJ steht, und es interessiert sie auch nicht weiter. Doch es kann sicher nichts schaden, sich noch einmal mit dem Priester zu treffen und ihm selbst ein paar Fragen zu stellen.
Zögernd greift sie zum Telefon.
Judy sitzt an ihrem Schreibtisch und schäumt vor Wut. Dieser Mistkerl! Wie kann er es wagen, sie so niederzumachen? Wir sind hier nicht im Groschenroman. Und dann auch noch vor Tanya Fuller. Judy mag Tanya eigentlich ganz gern. Man kann lustige Abende mit ihr verbringen, und
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